Neulich war ich auf einer Veranstaltung mit Street Fotograf:innen, und jemand sagte sinngemäß: „Die Street Fotografie ist ganz einfach. Man kann sie überall machen, braucht keine besondere Ausrüstung, und gute Ergebnisse entstehen fast von selbst. Viel unkomplizierter als andere Genres.“
Meistens sieht man es mir sofort an, wenn ich anderer Meinung bin. In diesem Fall war es gut, dass niemand auf meine Mimik achtete. Denn für mich ist Street Fotografie genau das Gegenteil: die vielleicht anspruchsvollste Disziplin überhaupt.
Weil sie Momente verlangt, die nicht wiederholbar sind. Weil man innerhalb von Sekundenbruchteilen Entscheidungen über Licht, Farbe, Hintergrund, Rhythmus und Bewegung treffen muss. Weil gutes Layering – also die gleichzeitige Arbeit mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund – eine fast kompositorische Meisterleistung ist.
Einer der wichtigsten Vertreter dieser komplexen, dichten Art zu fotografieren ist Alex Webb. Vielleicht sogar der Meister darin. Ich wähle ihn – passend zu unserem Podcast Motto „wichtig“ – nicht nur, weil sein Werk zum Kanon gehört, sondern weil es mich immer wieder daran erinnert, was gute Fotografie leisten kann und darf. Und ja, vielleicht auch ein bisschen, um daran zu erinnern, dass Street Fotografie eben nicht immer so „leicht“ ist, wie sie aussieht.
Wer ist Alex Webb?
Geboren 1952 in San Francisco, stößt Webb früh zur Agentur Magnum. Zunächst 1976 als Associate, seit 1979 als Vollmitglied. Anfangs noch in Schwarzweiß unterwegs, erlebt er Ende der 70er eine Art fotografisches Aha-Erlebnis in der Karibik und entscheidet sich fortan für Farbe. Diese Entscheidung macht ihn zu einem der bedeutendsten Farbfotografen der Gegenwart. Sein Werk ist ein Meilenstein für die Entwicklung einer „emotionalen Street Fotografie“, die statt der Pointe das vielschichtige, menschlich aufgeladene Bild sucht. Und genau mit diesem Aha-Erlebnis beginnt auch der Bildband, in dem man sich als Leser einmal chronologisch dreißig Jahre lang durch Webbs Farbfotografie arbeiten kann.
Farbe als Sprache
Webbs Farben sind keine hübsche Dekoration. Sie sind Struktur, Bedeutung und manchmal sogar Hauptdarsteller. Während viele seiner Magnum-Kollegen lange in Schwarzweiß arbeiteten, taucht Webb tief in die Farbe ein. Nicht plakativ, sondern komplex, mit Schatten, Layern und harten Kontrasten.










Layering: das Bild als Bühne
Ein zentrales gestalterisches Mittel in Webbs Bildern ist das sogenannte Layering, also das Arbeiten mit mehreren Bildebenen. Im Vordergrund passiert etwas, im Mittelgrund etwas anderes, und ganz hinten läuft oft noch eine dritte Geschichte. Diese visuelle Tiefe entsteht nicht zufällig, sondern durch Geduld, Beobachtung und eben auch ein unfassbares Gespür für den Moment, in dem alles zusammenkommt. Webb schafft damit Bilder, die nicht sofort „lesbar“ sind, sondern sich wie kleine Dramen entfalten.
Komposition am Rand des Chaos
Man bleibt oft länger auf einer Seite hängen, weil so viel gleichzeitig passiert: Kinder rennen durchs Bild, Schatten zerschneiden Gesichter, irgendwo im Hintergrund blitzt ein Detail auf, das beim ersten Durchblättern übersehen wurde. Webb arbeitet in einem kontrollierten Chaos, fast wie ein Jazzmusiker, der auf mehreren Ebenen gleichzeitig improvisiert – und doch trifft jeder Ton.
Bewegung und Ort
Geografisch bewegt sich das Buch hauptsächlich durch Haiti, Mexiko, Kuba und Istanbul. Diese Orte mit ihrer dichten Atmosphäre und sozialen Spannung scheinen wie gemacht für Webbs visuelle Verdichtungen. Immer wieder spürt man: Er ist nicht auf der Durchreise. Er beobachtet, wartet, atmet mit der Straße. Aber auch ein Bild aus München hat es in „The Suffering of Light“ geschafft. Irgendwie auch ein gutes Argument dafür, dass komplexe Webb’sche Street Fotografie auch in unseren Gefilden gut möglich ist.
Wofür steht nun Alex Webb?
Webb steht nicht für klassische Street Fotografie im Sinne von Cartier-Bresson. Er gehört zu eher einer Strömung, die man eher als „Humanistische / Emotionale Stree Fotografie“ bezeichnen könnte. Nämlich nah dran an den Menschen, farbintensiv, komplex, manchmal chaotisch. Im Vergleich zu den oft punktgenau beobachteten, formalen Schwarzweiß-Arbeiten früherer Generationen sind seine Bilder wie visuelle Novellen: offen, mehrdeutig, voller Nebengeräusche.
Im Kontrast dazu steht die Street Fotografie im deutschsprachigen Raum oft woanders, stilistisch, rechtlich aber auch emotional. Und dafür gibt es natürlich viele Gründe, allen voran das Thema Datenschutz, das unsere Praxis prägt. Menschen von vorn zu fotografieren, gilt als riskant oder unhöflich. Viele Fotograf:innen setzen daher auf Distanz, Geometrie, Flächenästhetik. Die Street Fotografie ist oftmals eher eine Art Landschaftsfotografie in urbanen Räumen, in denen einzelne Menschen wie Statisten angeordnet wirken. Es ist wie ein spätes Vermächtnis, dass die hiesige Wahrnehmung sehr stark von Thomas Leuthard geprägt ist.
Was Thomas Leuthard geprägt hat
Der Schweizer Fotograf war in den frühen 2010er-Jahren einer der lautesten Stimmen der Szene, weniger durch Ausstellungen oder Fotobücher, sondern vielmehr eine geschickte Social-Media-Präsenz. Mit kostenlosen E-Books, YouTube-Videos, Flickr-Gruppen und später Facebook-Communities hat er eine große Reichweite aufgebaut. Für viele war er der erste Kontaktpunkt mit der Street Fotografie.
Ich würde Leuthards Stil heute als Blaupause für die mitteleuropäische Straßenfotografie interpretieren: distanziert, schnell, oft reduziert auf visuelle Gags oder grafische Kontraste. Wie eben der klassische Mann mit Hut oder ein Schatten im Gegenlicht. Viele seiner Follower übernahmen nicht nur seinen Stil, sondern auch seine Haltung: weniger Bezug zum Ort, viel weniger Nähe zu den Menschen und daher auch weniger emotionale Tiefe. Bei aller Wertschätzung für Leuthard und seiner Arbeit: Die Street Fotografie in Deutschland wurde einem breiten YouTube Publikum als eine Art visuelles Reflexspiel bekannt gemacht, reduziert auf Pointen und Pattern.
Gerade deswegen erscheinen mir Fotograf:innen wie Alex Webb, Sam Abell oder Carolyn Drake so „wichtig„. Sie zeigen, dass Street Fotografie auch nah, chaotisch, humorvoll, emotional, sozial relevant oder poetisch sein kann. Und das Street Fotografie eben nicht nur als geometrisches Spiel oder als Serie von ironischen Momentaufnahmen versteht werden kann.
Alex Webb mit „The Suffering of Light“ , dass man sich vom Motiv auch treiben lassen kann. Seine Bilder sind voller Menschen, aber eben nie in reißerischer Weise. Die Grenzen zwischen der Dokumentation und der Poesie sind fließend. Ich spüre in seinen Bildern, dass jede Szene durchdrungen ist von Erfahrung, von Ortskenntnis und von Geduld. Von einer intensiven Planung, wie gemalt auf einer großen Leinwand, eben dem Bildausschnitt. Komplex und unfassbar anspruchsvoll.
„The Suffering of Light“ ist kein Buch, das ich beim ersten Durchblättern ganz verstehe. Auch nicht beim zweiten oder dritten Mal. Es fühlt sich eher wie ein guter Roman an: Immer wieder entdecke ich neue Ebenen. Für mich ist es eines der wichtigsten Bildbände der letzten Jahrzehnte. Kein Leichtgewicht, weder physisch noch inhaltlich, aber ein Buch, das man nicht nur ins Regal, sondern ins Denken stellt.
Links zur Folge
- Thomas‘ Wahl in dieser Podcast Folge zum Thema „wichtig“ ist ein wirklich SEHR „wichtiges Buch“: Auschwitz-Birkenau von Juergen Teller, erschienen dieses Jahr im Steidl Verlag: Hier der Link zu Thomas Notizen und hier zu Amazon (Affiliate)
- „The Suffering of Light“ von Alex Webb bei Amazon, neu derzeit für etwa 54 Euro (Affiliate)
- Auch Peter Poete hat über das Buch schon geschrieben
- Eine sehr empfehlenswerte Buchbesprechung gibt es auf YouTube bei Pushing Film
In dieser Folge stelle ich unter anderem das Bild von Alex Webb vor, dass am 11. September 2001 entstanden ist (seht Ihr auch oben in der Galerie). Da am Vortrag eine Magnum Konferenz anberaumt war, waren mehrere Magnum Fotograf:innen vor Ort. Steve McCurry, zwar in New York lebend, war für diese Konferenz aus Asien zurück gekommen. Alex Webb, wie beispielsweise auch Thomas Hopeker (mit „Blick nach Williamsburg“ – das Bild mit den scheinbar entspannten Menschen in Brooklyn mit der rauchenden Skyline im Hintergrund) waren extra angereist. Diese Konstellation erklärt, warum einige der prägendsten Bilder des 11. September von so vielen hochrangigen Fotograf:innen stammen: Neben Webb, McCurry und Hopeker waren unter anderem auch Bruce Gilden, Susan Meiselas, Eli Reed oder Paul Fusco vor Ort.
- Tatsächlich ist schon wenige Monate später ein Bildband erschienen, der zahlreiche Aufnahmen der Magnum Fotograf:innen von 9/11 zeigt. „New York, 11. September“ ist für ca. 15 Euro gebraucht erhältlich (Amazon Affiliate).
- Passend azu gibt es einen Magnum Artikel: „20 Years On. Remembering The 9/11 Attacks“ (mit vielen Aufnahmen der oben genannten Fotograf:innen)
- Ein wahnsinnig spannender Artikel zu Thomas Hoepkers Aufnahme „Blick nach Williamsburg“ vom 11. September 2001 über Entstehung und Rezeption.
- Ebenfalls passend und sehr empfehlenswert: die aktuelle Steve McCurry Doku auf Arte, u.a. auch mit den 9/11 Fotos
Weitere Empfehlungen aus der Folge
Folgende weitere Zusatzthemen haben wir in der Sendung angesprochen:
- Mein Bericht zum Istanbul Workshop mit Jonathan Jasberg (das Video dazu ist in der YouTube Ausgabe des Podcastes zu sehen)
- Die Podcast Folge zum Thema Bloggen bei Fotografie tut gut
- Artikel über das Aufstiegswunder von Altona 93 bei transfermarkt.de und einen Bericht in der WELT über die Aussichten von Altona 93 in der neuen Saison und einem möglichen neuen Stadion
- Washi Tape – eine Art Tesa um Bilder an der Wand aufzuhängen für Foto Editing (Amazon Affiliate)
Den Podcast und die anderen Folgen der Fotobuch Plauder Ecke findest Du bei Spotify, Apple Podcasts, Google Podcasts, Deezer und allen gängigen Plattformen. Und zusätzlich bei YouTube als Video Podcast. Damit Du keine Folge verpasst, lass gerne ein Abo auf der Plattform Deines Vertrauens da!
Hi Florian,
und da sind die wieder, unsere kleinen Gemeinsamkeiten… sehr cool, dass Du Alex Webb hier auch vorgestellt hast! Ich sehe das wie Du und bin auch manchmal etwas erschlagen, aber vor allem mega inspiriert durch seine Bilder. Ich finde seine Bilder fotografisch und kompositorisch soooo lehrreich. Wenn ich in meinem Leben 10 Bilder in solchen Kompositionen hinbekommen würde, wäre ich sehr zufrieden :-).
VG Peter
Hi Peter, ja, eine weitere Parallele, Du hast ja Alex Webb auch schon vorgestellt 🙂
Viele Grüße und einen schönen Sonntag!
Florian
Moin Florian,
vielen Dank für deinen Newsletter und die passenden Buchempfehlungen.
„The Suffering of Light“ habe ich schon länger auf meinem medimops-Merkzettel.
Jetzt bin ich kein Street-Fotograf, versuche mich hier und da jedoch immer wieder einmal an dem Genre. Und ich muss dir absolut Recht geben, diese Disziplin ist wirklich anspruchsvoll…
Die Bilder von Alex Webb beeindrucken und inspirieren mich, umso mehr habe ich mich über deinen Blogpost gefreut.
Ganz nebenbei habe ich mir dann noch das Buch „New York 9/11“ bestellt und freue mich schon auf die Lektüre.
Einen sonnigen Sonntag😉
Ole
Hey Olli, lieben Dank für Deinen Kommentar. Freut mich dass Dir die Folge gefällt und dass Du Alex Webb sowieso auf dem Schirm hast. Und ich wäre sehr gespannt zu erfahren wie Dir der 9/11 Bildband gefällt.
Viele Grüße, Florian
Lieber Florian, ich kannte natürlich Alex Webb, aber mir ist erst nach deiner Buchvorstellung und einer zusätzlichen Recherche meinerseits bewusst geworden, dass man fotografisch durch die Struktur der Farben ein solch unglaubliche Nähe herstellen kann. Dafür also großen Dank! Die Podcastfolge fand ich persönlich auch sehr informativ und unterhaltsam – wenngleich ihr durchaus offensiver über die – wie ich finde – unverschämte Preispolitik von Fujifilm sprechen könntet. Außerdem möchte ich auch sagen – wenn gleich die Podcastfolge mit Falk Frassa einen eigenen Blogbeitrag hat – dass dies eine der besten und intensivsten Podcastsendungen war, die ich je gehört habe. Ein ergreifendes und mitnehmendes Gespräch!
Grüße, Wilhelm Heim
Hallo Wilhelm, das freut mich sehr zu hören, sowohl was die Folge mit Thomas an sich angeht, als auch das Gespräch mit Falk. Wie wir alle wollen wir natürlich immer auch etwas Neues dazu beitragen und da ist es immer schön, ein positives Feedback zu bekommen.
Tatsächlich wäre die Preispolitik der Hersteller auch echt mal ein eigenes Thema, insb Fuji. Ich habe das mal im Kopf, auch wenn ich dann immer die Befürchtung habe, dass wir uns eventuell zu weit weg vom Kernthema „Fotobuch“ bewegen und dann noch längere Folgen machen würden 😉
Viele Grüße, Florian
Sehr gerne habe ich euch zugehört. Vor allem die Gedanken zu Alex Webb und seiner Fotografie und deinen empfundenen Kontrast zur deutschen Street Fotografie sind super reflektiert, das habe ich noch nie so gesehen. Auch wenn es manchmal – bitte entschuldigt – langatmig ist, dann ist es doch sehr tiefgründig und vielschichtig. Ein tolles Format. Vielleicht versucht ihr manchmal etwas kürzer am Stück zu reden und die Sätze kürzer zu machen…. 😉 ?
Lieben Dank für Dein Feedback, Jochen. Das ist genau die Art von Rückmeldungen, die wir brauchen. Wir machen uns dazu Gedanken, versprochen! 🙏