Im neuen Jahr 2025 starten wir in unser drittes Podcast-Kalenderjahr der Fotobuch Plauder Ecke. Seit Oktober 2023 nehmen wir monatlich eine Folge auf, in der wir uns gegenseitig einen Bildband vorstellen – das sind mittlerweile stolze 30 Bildbände, über die wir diskutiert haben (ganz zu schweigen von zwei Sonderfolgen, die exklusiv auf YouTube zu finden sind).
Die erste Folge des neuen Jahres steht unter dem Motto „Öffentliche Verkehrsmittel“. Thomas hat sich das Buch Taxi von Sigbjørn Sigbjørnsen, hört Euch die Folge unbedingt mal an. Zum Thema „Verkehr“ bzw. „Öffentliche Verkehrsmittel“ hätte ich zahlreiche Bildbände auswählen können, aber für mich war schnell klar: Es hat die Stunde meines Lieblingsfotografen geschlagen. Der viel zu früh verstorbene Michael Wolf hat mich in den letzten Jahren nicht nur tief beeindruckt, sondern auch nachhaltig inspiriert. Seine einzigartige Herangehensweise, fotografische Projekte zu entwickeln, Bilder zu sammeln und diese im gesellschaftlichen Kontext zu beleuchten, ist für mich unerreicht.
Von seinen vielen faszinierenden Arbeiten hätte ich einiges vorstellen können, aber heute dreht sich alles um „Tokyo Compression“, seine eindrucksvolle Dokumentation des Lebens in Tokios überfüllten U-Bahnen. Die meisten von Euch haben diese ikonischen Bilder sicher schon vor Augen. Trotzdem habe ich die Gelegenheit genutzt, in dieser Folge gemeinsam mit Thomas – und damit auch mit Euch – über dieses außergewöhnliche Werk zu plaudern.
Tokyo Compression: Michael Wolf und die Enge des urbanen Lebens
Michael Wolf, geboren 1954 in Deutschland und aufgewachsen in Kalifornien, war ein deutsch-amerikanischer Fotograf, der durch seine einfühlsame und kritische Dokumentation urbaner Lebenswelten internationale Anerkennung fand. Nach einem Studium der Fotografie und Visuellen Kommunikation an der Folkwang Hochschule in Essen begann Wolf seine Karriere als Fotojournalist. 1994 zog er im Auftrag des Stern nach Hongkong, einer Stadt, die ihn nachhaltig prägen sollte. Acht Jahre später entschied er sich, fortan als freier Fotograf zu arbeiten und die Themen, die ihn persönlich bewegten, mit künstlerischer Freiheit zu erforschen. Seine Werke brachten ihm zweimal den World Press Photo Award ein sowie eine Honorable Mention für sein innovatives, aber gewissermaßen auch provokantes Projekt zu Google Street View. Eines seiner eindrucksvollsten und bekanntesten Projekte ist eben jene Serie „Tokyo Compression“, die von 2010 bis 2013 entstand..
Tokyo Compression: Ein Blick in die Seele der Megastadt
Zwischen 07:30 und 08:45 Uhr, zwanzig Tage lang, einmal im Jahr, stand Michael Wolf immer an derselben Bahnstation in Tokio. Diese fast rituelle Herangehensweise ermöglichte es ihm, die bedrückende Enge der japanischen Rush Hour in Bildern einzufangen, die gleichzeitig intim und universell wirken. Die Serie zeigt Pendler, die in überfüllten U-Bahn-Waggons stehen, oft an die beschlagenen Scheiben gedrückt, ihre Gesichter ein Spiegel der Müdigkeit, des Stresses und der Resignation.
Wolf arbeitete hier bewusst mit der Dichte und der Kälte der urbanen Struktur, um die psychischen und physischen Auswirkungen der Überbevölkerung sichtbar zu machen. Die Scheiben, oft beschlagen und von Atemfeuchtigkeit bedeckt, wirken wie eine Barriere zwischen den Betrachtern und den Fotografierten, verstärken aber gleichzeitig die Intimität der Szenen.






Der begleitende Text „Tokyo Subway Dreams“ von Christian Schüle beschreibt treffend die symbolische Dimension dieser Bilder: Sie sind Porträts von Menschen in einem System, das sie gleichzeitig vereinnahmt und isoliert. Der Wunsch, über das eigene Leben zu bestimmen, wird hier im wortwörtlich engen Rahmen des Zugabteils auf die Probe gestellt.
Andere Projekte: Ein Fotograf als Sammler des Urbanen
Wie eingangs beschrieben, möchte ich in diesen Notizen kurz auch auf andere Projekte hinweisen (auf seiner Website – unten verlinkt – findet Ihr zu allen Projekten mehr Informationen). Michael Wolf war nicht nur Chronist des urbanen Lebens, sondern auch ein Sammler und Beobachter der Artefakte und Eigenheiten der Städte. Seine Werke umfassen u.a.:
- „Architecture of Density“: Hier dokumentierte er die monumentale Enge und Anonymität von Hongkongs Hochhäusern. Die Fassaden füllen den gesamten Bildrahmen aus und verdeutlichen das Fehlen jeglicher menschlicher Spuren.
- „Bastard Chairs“: Eine humorvolle aber eben auch kritische Serie, die selbstgebaute Stühle aus Hongkongs Straßen zeigt. Diese Objekte symbolisieren für Wolf die kreative Resilienz der Bewohner.
- „Transparent City“: In Chicago fokussierte er sich auf moderne Bürogebäude, deren Fassaden er mit extremer Vergrößerung darstellte. Dabei entstanden faszinierende Einblicke in das Leben hinter den Glasfassaden.
- „The Real Toy Story“: Ein einzigartiges Projekt, das Porträts chinesischer Fabrikarbeiter, die Spielzeug herstellen, mit tausenden von gebrauchten Spielzeugen zu einer Installation verband.
- „Street View Project“: Hier verwendete Wolf Google Street View, um die urbane Isolation und Anonymität zu erforschen. Diese Serie wurde mit einer Honorable Mention ausgezeichnet und hinterfragte zugleich die Ethik der digitalen Bildproduktion. Ich finde besonders spannend, dass er mit einer Mittelformatkamera den Bilschirm abfotografierte, quasi Bildausschnitte wählte, so wie es auch ein „klassischer“ Fotograf macht.
Eine Retrospektive: Life in Cities
Eine Art Werkschau mit dem Titel „Life in Cities“ wurde Ende 2018 bis Anfang 2019 in den Deichtorhallen in Hamburg gezeigt. Die Ausstellung war ein umfassender Rückblick auf Wolfs Schaffen und umfasste unter anderem die oben erwähnte Installation „The Real Toy Story“ und den Nachbau einer winzigen Containerwohnung aus Hongkong. Wolf selbst kuratierte diese Schau noch vor seinem Tod im April 2019 in Hongkong. Die Ausstellung war ein Zeugnis seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der urbanen Welt und den Menschen, die in ihr leben. Ich erinnere mich, dass diese Werkschau in Hamburg für mich ein ganz besonderes Erlebnis war. Spätestens hier hatte ich meinen persönlichen Lieblingsfotografen gefunden.
Michael Wolfs Fotografien sind mehr als „nur“ reine Dokumentation. Sie laden dazu ein, über die sozialen und psychologischen Auswirkungen des modernen Lebens nachzudenken. Insbesondere Projekte wie „Tokyo Compression“ zeigen, wie nah Kunst und Kritik beieinanderliegen können. Seine Arbeiten bleiben ein beeindruckendes Vermächtnis, das uns alle mit der Frage zurücklässt: Wie sehr ist der Mensch in den Strukturen gefangen, die er selbst erschaffen hat?
Links zur Folge „Tokyo Compression“ von Michael Wolf
- Das Buch „Tokyo Compression“ ist in vier, jeweils aktualisierten und erweiterten Auflagen erschienen. Die diversen Ausführungen sind alle nur noch gebraucht erhältlich, so ab 200 Euro kann man ganz grob sagen, geht es los – zumindest bei Amazon (Afffiliate):
- Es gibt eine 2017 als Buch erschienen Werksschau mit dem Namen „Michael Wolfs Works“. Leider auch vergriffen und nur gebraucht zu bekommen (Affiliate).
- Hier findest Du den von Thomas vorgestellten Bildband „Taxi“ von Sigbjørn Sigbjørnsen (Affiliate). Und hier geht es zu Thomas‘ Bericht auf seiner Website.
In dieser Podcastfolge hatten wir eine Wette einzulösen. Eine Hörerin forderte uns heraus, ob wir es schaffen, eine Ausgabe lang, einmal nicht über Fußball zu sprechen. Ich habe es nicht geschafft und habe mir eine Organisation ausgesucht, an die ich spende. Es handelt sich um Art Meets Education, ein Projekt, das sich um Schulkinder auf den Philippinen kümmert. Es ist ein Fotografieprojekt, bei dem die Kinder mit analogen Kameras Kunstwerke erstellen, die man für diesen guten Zweck erwerben kann. Oder eben Merchandise. Schaut doch mal rein bei Art Meets Education und meldet Euch gerne bei mir, falls Ihr ein paar Euro mitspenden wollt.
- Die Website von Michael Wolf sowie der Instagram Kanal
- Rückschau auf die Ausstellung „Life in Cities“ in den Hamburger Deichtorhallen 2018/2019
- YouTube: Interview mit Michael Wolf bei der Deutschen Welle
- YouTube: Auf der Photo London berichtet Michael Wolf über seine Projekte (englisch)
- YouTube: Video über sein Street View Projekt (englisch)
- Außerdem habe ich in aller Kürze über den gerade erschienen Bildband „Oh Tannenbaum“ von Nikita Teryoshin gesprochen. Hier findet Ihr ihn signiert bei Artbooks Online und ich habe auch über den Artikel im letzten SZ Magazin gesprochen.
- Und hier findet Ihr alle meine Notizen der Fotobuch Plauder Ecke
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Lieber Florian, eine sehr gute Vorstellung. Auch ich bin ein sehr großer Fan von Michael Wolf und seiner Arbeiten. Eine Retrospektive wünsche ich mir auch. Weiter so mit dem Podcast! Herzliche Grüße aus Trier, Christopher
Dankeschön Christopher!