Frank Kunert – „Carpe Diem“ (Notizen zur Podcast Folge #3 der Fotobuch Plauder Ecke)

Weihnachten steht vor der Tür und die Suche nach dem perfekten Geschenk hat begonnen. Was liegt also näher als in unserem Podcast, der Fotobuch Plauder Ecke, über Bildbände zu sprechen, die wir zu Weihnachten verschenken würden? Ich habe mir für Euch und für Thomas das Buch „Carpe Diem“ von Frank Kunert ausgesucht. Diese Arbeit ist für mich nicht nur ein visuelles Meisterwerk, sondern auch ein Geschenk, das Humor, Tiefe und Kreativität in sich vereint.

Meiner Wahl liegen auch folgende Überlegungen zugrunde: Das perfekte Weihnachtsgeschenk muss natürlich im Buchhandel erhältlich sein – für viele unserer Lieblingsbildbände gilt das ja nicht, da sie oftmals vergriffen sind. „Carpe Diem“ ist zudem mit 20 Euro überaus erschwinglich. Und drittens spricht dieser Bildband meiner Meinung nach ein breites Publikum an. Die darin enthaltene Gesellschaftskritik entspringt ganz alltäglichen Situationen, die wir alle kennen oder zumindest nachvollziehen können.

Frank Kunert und seine Miniaturwelten

Frank Kunert ist vielen von Euch sicherlich bekannt, denn wer sich mit der Fotografie beschäftigt, wird wahrscheinlich früher oder später über seine Arbeiten stolpern. Mein vorgestellter Bildband „Carpe Diem“ erschien Ende letzten Jahres und ist nach „Verkehrte Welt“ (2008), „Wunderland“ (2016) und „Lifestyle“ (2018) schon sein viertes Werk, die alle bei Hatje Cantz erschienen sind.

Frank Kunert - Carpe Diem
Quadratisch, praktisch und sehr gut: „Carpe Diem“ von Frank Kunert. 80 Seiten mit 40 Abbildungen für 20 Euro.

Was wir in seinem Bildband sehen, sind Außen- und Innenansichten von Gebäuden, meist sind es irgendwie altbackene und runtergekommene Szenarien und oft steht immer irgendwo ein Glas Rotwein herum. Der Clou ist aber eigentlich, dass da meist erst auf den zweiten Blick etwas ist, was nicht stimmt.

Schon das Titelbild „Zimmer mit Aussicht“ ist ein Meisterwerk. Ein verlängerter Sessel – wie er bei vielen von uns im Wohnzimmer stehen könnte, meist wohl vor dem Fernseher – ist noch einmal verlängert um ein Sprungbrett, das uns in eine andere Welt führt. Dort wo die Sonne scheint, wo Ruhe herrscht und wo alles schöner aussieht. Wen würde dieser Sessel wohl nicht einladen? Ergänzt um ein Getränk und eine gute Lektüre?

„Zimmer mit Aussicht“ (Seiten 42/43 in „Carpe Diem“ von Frank Kunert)

Meine folgenden Gedanken lauten etwa: Wie ist das möglich? Wer denkt sich denn ein solches Wohnzimmer aus? Wo steht das? Und wie konnte Kunert das denn fotografieren?

Viele von Euch wissen es natürlich, es handelt sich hier um Miniaturwelten, nicht um „echte Realitäten“. Frank Kunert ist quasi Architekt und Fotograf zugleich. Mit viel Liebe baut er diese Mini-Kulissen um sie anschließend so zu fotografieren, dass sie täuschend echt aussehen. Diese Technik ermöglicht ihm, mit unseren Gedanken zu spielen, uns zu täuschen.

Kunert und der Surrealismus

Und so lassen sich Frank Kunerts Arbeiten als eine moderne Ableitung des Surrealismus betrachten, wobei Parallelen zu ikonischen Künstlern für mich unverkennbar sind. Wie beispielsweise Salvador Dalí, der für seine traumartigen, bizarren Landschaften bekannt ist, schafft auch Kunert mit seinen sorgfältig inszenierten Miniaturwelten eine Realität, die die Grenzen des Gewöhnlichen überschreitet. Die Realität wird soweit verfremdet, um tiefere Bedeutungen und unerwartete Perspektiven zu offenbaren, die die Betrachter zum Nachdenken anregen. Diese Qualität in Kunerts Arbeiten, die alltägliche Szenen in das Reich des Fantastischen überführt, spiegelt deutlich den Einfluss des Surrealismus wider.

„Komfort-Doppelzimmer“ (Seiten 54/55 in „Carpe Diem“ von Frank Kunert)

Eines meiner Lieblingsbilder ist das „Komfort-Doppelzimmer“, das so stilgerecht die 1950er Jahre zeigt, dass ich im ersten Moment an alles Andere als an Komfort denke. Es ist aufgeräumt, sauber und ordentlich und es verspricht eine angenehme Nacht zu werden, so ruhig und so clean sieht alles aus. Kein Fernseher, der mich ablenkt, sogar für extra Decken ist gesorgt.

Ihr kennt mich, ich mag klare Linien in den Bildern, ich mag es wenn Fotos Ruhe ausstrahlen. All das ist hier der Fall. Erst auf den zweiten Blick sehe ich die direkte Betreuung durch die Rezeption, die alle Grundwerte dieses Bildes konterkariert. Weniger Ruhe und mehr Indiskretion kann ich mir gar nicht vorstellen: Die Rezeption ist direkt in das Zimmer angeschlossen, die abgelegte Brille zeugt davon, dass das Personal wohl nur kurz um die Ecke gegangen sein muss. Mehr Komfort geht nicht, oder?

Es sind diese Gedankenwelten, die mich immer wieder versinken lassen, die Doppeldeutigkeiten, die sich durch Kunerts Arbeiten ziehen. Ich ertappe mich, wie ich durch den Bildband blättere und die Details minutiös studiere aber gleichzeitig versuche, den Titel der Bilder erst einmal zu ignorieren. Ja, ich überlege, welchen Titel der Architekt und Fotograf seinen Aufnahmen gegeben haben könnte. Oftmals sind es dann genau diese Titel, die eine weitere gedankliche Ebene öffnen.

„Tagtraum“ (Seite 57 in „Carpe Diem“ von Frank Kunert)

So geht es mir auch bei seinem Bild „Tagtraum“. Wir sehen hier einen Tagungsraum (wer sieht nicht schon da die Verwandschaft zur Bezeichnung?), einmal mehr im Style eines längst vergangenen Jahrzehnts, einmal mehr sehr aufgeräumt und wie immer ohne Menschen. Nur einer der Stühle steht anders, nämlich rückwärts gewandt und extrem nach oben verlängert, sogar ein eigenes Loch in der Decke hat dieser Platz bekommen. Dort wo der blaue Himmel ist und – mal wieder steckt die Liebe im Detail – ein Drink, der auf die/den Tagungsteilnehmer:in wartet.

Und so blättere ich nicht nur durch irgendeine Sammlung von Bildern, sondern beschäftige mich mit der Gedankenwelt eines außergewöhnlichen Künstlers. Kunerts Humor, der in jedem seiner Werke mitschwingt, ist für mich subtil und doch so präsent, was diese Sammlung zu einem perfekten Geschenk für diejenigen macht, die gerne über den Tellerrand hinausblicken. Denn genau das vereint seine Werke: Es ist immer der Blick, der etwas weitergeht, der uns die existierende (Schein-)welt hinterfragen lässt. Ist das nicht etwas, was wir in der Weihnachtszeit und/oder „zwischen den Jahren“ so gerne machen?

Auch mein viertes Bild, das ich Euch vorstellen möchte, macht in mir so eine neue Gedankenwelt auf. In einem ganz normalen Esszimmer sehen wir einen frisch gedeckten Tisch, hier ist die Welt noch wirklich in Ordnung. Eigentlich fehlen nur noch das Essen und die Gäste. Doch halt, ein Stuhl fehlt. Und da ist ja noch dieses Loch im Boden? Ist der Boden etwa aus Eis? Saß da schon ein Gast und ist samt Stuhl weggebrochen? War sie oder er zu schwer? Was ist da passiert? Und Moment, wie heißt eigentlich das Bild? – Ach ja, „Dünnes Eis“.

„Dünnes Eis“ (Seite 20 in „Carpe Diem“ von Frank Kunert)

Für mich fasst diese Aufnahme alles zusammen, was Frank Kunert und seinen Bildband „Carpe Diem“ ausmachen: Nämlich eine faszinierende Verwandlung alltäglicher Szenen in etwas Außergewöhnliches. Kunerts Werke sind nicht nur Fotografien, sondern minutiös gestaltete Miniaturwelten, die mit einem Augenzwinkern gesellschaftliche Themen beleuchten. Jedes Bild in „Carpe Diem“ erzählt seine eigene Geschichte und lädt den Betrachter ein, über das Gesehene hinaus zu denken.

„Das Leben ist eine Modellbaustelle“

So lautet die Überschrift zum ausführlichen Anhang in „Carpe Diem“. Frank Kunert lässt sich in seinem eigenen Bildband von Peter Lindhorst interviewen, was das Werk abrundet, weil Ihr als Leser:innen hier mehr über die Arbeit hinter den Kulissen erfahrt. Also wie Kunert die Modelle baut, was er sich dabei denkt und auch wie er fotografiert. Denn was in der Bewertung seiner Arbeit tatsächlich zu kurz kommen könnte, ist die Komplexität der Fotografie. Schließlich müssen die Modelle so in Szene gesetzt werden, dass sie im ersten Moment aussehen als wären sie reale Welten. Insbesondere die Ausleuchtung spielt hierbei eine besondere Rolle und ich kann nur erahnen, wie wichtig es für die Arbeit ist, dass Frank Kunert ausgebildeter Fotograf ist und dabei viel Erfahrung in der Studiofotografie erlangte.

Wenn Ihr Euch mehr mit Frank Kunert beschäftigen wollt, dann schaut mal in die untenstehende Linksammlung und ihr werdet auch lernen, dass Kunert in seinen vorherigen Modellen noch häufig analog, ja sogar auf Großformat fotografierte. Und in diesem Zusammenhang möchte ich auch explizit auf sein erstes Buch „Verkehrte Welt“ hinweisen. Die dortigen Modelle sind noch etwas weniger filigran, der Humor dafür etwas bissiger, alles ist insgesamt etwas rauer und wilder.

Besucht unbedingt Kunerts Website und stöbert nach den zahlreichen Ausstellungen, die national aber auch weit über die Landesgrenzen hinweg stattfinden. Während ich diese Zeilen schreibe, könnt Ihr seine Bilder in New York, Frankfurt, Offenburg und Brandenburg an der Havel sehen, weitere Ausstellungen sind für 2024 unter anderem in Boston, Washington, Dreieich und Kunerts Wohnort Boppard geplant. Auf meinen persönlichen Wunschzettel für das kommende Jahr kommt so ein Ausstellungsbesuch, vor allem weil ich Frank Kunerts Bilder auch im Großformat sehen möchte.

Denn das ist auch mein (einziger Kritikpunkt): Das etwa 22*22 Zentimeter Format ist mir etwas zu klein. Auch wenn manche Aufnahmen über die Doppelseiten hinweg layotet sind (und leider auch in meinem Exemplar zu stark „springen“), so würde ich mir mehr Raum wünschen. Vielleicht wäre eine Best Of Ausgabe in einem größeren Format ein ideales Weihnachtsgeschenk für eines der kommenden Weihnachtsfeste? 😉

Fazit

Ich hoffe ich konnte Euch (und auch Thomas) von meinem perfekten Weihnachts-Bildband-Geschenk überzeugen? Ich jedenfalls hatte mir „Carpe Diem“ letztes Jahr zu Weihnachten selbst geschenkt und freue mich noch immer darüber.

Zum Weiterlesen / Links

Den Podcast selbst habe ich oben schon eingebunden, ihr findet die Folge aber auch auf allen gängigen Portalen, also Apple Podcasts, Spotify etc. Am Besten Ihr abonniert einfach die Fotobuch Ecke in Eurer Lieblingsapp, dann verpasst Ihr keine der kommenden Folgen und auch keine der weiterhin erscheinenden Einzelausgaben mit Fotograf:innen und ihren Bildbänden!

15 Gedanken zu „Frank Kunert – „Carpe Diem“ (Notizen zur Podcast Folge #3 der Fotobuch Plauder Ecke)“

  1. Eine sehr gelungene Folge, gefällt mir auch wie ihr vor der eigentlichen Buchvorstellung ins Plaudern kommt. Es heißt ja auch Plauderecke merke ich gerade 😉 Liebe Grüße und weiter so, Matthias!

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  2. Hallo Florian,

    vielen Dank für die ausführliche und gelungene Vorstellung meines Bandes! Auch Deine angeführten Kritikpunkte kann ich gut nachvollziehen. Vielleicht wird es irgendwann mal ein Buch im größeren Format geben. In der Tat wäre das der Wirkung der Bilder zuträglich. Leider habe ich auch selbst feststellen müssen, dass mich die Verarbeitungsqualität der ersten Auflage nicht ganz überzeugt hat. So sind die Fotos im Nachdruck auf den Doppelseiten nun bündig und springen nicht mehr „wild“ herum.

    Noch eine kurze Bemerkung zu den Ausstellungen, die Du genannt hast: Mittlerweile habe ich meine Website aktualisiert, da die eine oder andere Schau leider abgesagt oder verschoben werden musste. Davon sind aber zum Glück die aktuell laufende und für das kommende Jahr geplante Einzelschau nicht betroffen.

    Viele Grüße

    Frank Kunert

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    • Hallo Frank,

      sehr gerne und vielen Dank für Deinen Kommentar und Deine Ergänzungen!
      Das hört sich doch prima an, dass es irgendwann mal einen Bildband von Dir in einem größeren Format geben könnte, das wäre fantastisch!

      Viele Grüße,
      Florian

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  3. Ich habe mir das von dir vorgestellte Buch bestellt. Freue mich darauf aber eigentlich ist es für meinen Freund zu Weihnachten 😉 hahaha, danke für den Beitrag. Carmen

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