Das Hamburger Elbjazz Festival ist eines der größten Jazzfestivals in Deutschland und ein Muss für jede:n Musikliebhaber:in. Seit seiner ersten Austragung im Jahr 2010 hat es sich zu einem festen Bestandteil des Hamburger Kulturkalenders entwickelt. Das Elbjazz zieht jedes Jahr tausende Besucher:innen aus dem In- und Ausland an. Die Schauplätze des Festivals sind ein wesentlicher Teil seines Charmes. Die Konzerte finden an verschiedenen Orten im Hafen statt, darunter auf Werftgeländen, in Lagerhallen und sogar auf Schiffen. Ein Highlight ist die Hauptbühne am Blohm+Voss Dock, wo die Künstler:innen vor der eindrucksvollen Kulisse der riesigen Schiffbauhalle auftreten. Aus fotografischer Sicht ist es damit hoch attraktiv. Wenn Du einer meiner Stammleser:innen bist, dann weißt Du, dass ich auch schon letztes Jahr dort war; damals als Analogfatograf mit meiner Minolta CLE.
Dieses Jahr war das Elbjazz Anfang Juni und einmal mehr präsentierte sich ein spannendes Lineup bei perfektem Sommerwetter. War für mich nur noch die Frage aller Frage offen: Welche Kamera und welche Objektiv(e) nehme ich mit? Wie gut, dass ich ein paar Tage vorher die Gelegenheit hatte, die Manufaktur von Meyer Optik Görlitz in Hamburg zu besuchen. Vielleicht erinnerst Du Dich: Ich hatte das Primoplan 58mm F1.9 II in Japan dabei und war sehr begeistert von den Special Features dieses Objektivs. Und so wollte ich mehr über die Marke und ihre Geschichte wissen. Und natürlich auch ein weiteres Objektiv testen.
Anfang Juni hatte ich schließlich die Gelegenheit, die Manufaktur von Meyer Optik Görlitz zu besuchen. Mit dem Elbtower entsteht hier – ganz in der Nähe der Elbbrücken – eines der neuen Wahrzeichen von Hamburg. Es soll immerhin einmal Deutschlands höchstes Gebäude außerhalb von Frankfurt am Main werden. Nur gut hundert Meter entfernt, einmal quer über den Billehafen, befindet sich das wunderschöne Backsteinensemble „Brandshofer Deich 116“, der ehemalige Verwaltungssitz der Binnenschiffsreederei Schlesische Dampfer Co. Berliner Lloyd AG. Im Souterrain dieses Gebäudes ist die kleine, aber feine Manufaktur von Meyer Optik Görlitz zuhause.
Hier kommt Thomas Burisch ins Spiel. Er ist Betriebsleiter und nimmt sich für meinen Besuch richtig viel Zeit. Ich darf einen Blick in die Werkstatt werfen und staune über die vielen Präszisionsmaschinen, über die man alle eine eigene Geschichte schreiben könnte. Hier wird von Hand gefertigt und alle Produktionsschritte, wie auch die Materialien sind noch wirklich „Made in Germany“. Thomas weiß extrem viel zu erzählen, zum Beispiel von der bewegten Historie von Meyer Optik Görlitz und wie es schließlich zur Manufaktur in Hamburg gekommen ist. Die Räumlichkeiten sind geradezu ideal, in diesem Gemäuer stecken einfach viele Geschichten von Hamburger Kaufleuten und ihren Handelsbeziehungen. Das Beste jedoch: Für das Hamburger Elbjazz Festival darf ich mir das Meyer Optik Görlitz Primoplan 75/1.9 II ausleihen und ausgiebig testen.
#Transparenz
Wie immer durfte ich auch das Meyer Optik Görlitz Primoplan 75/1.9 II völlig unentgeltlich ausleihen und habe dabei keinerlei Vorgaben bekommen, was und wie ich berichte. Ich wollte dieses Objektiv einfach ausprobieren und bin dankbar, dass ich das völlig neutral machen durfte. Was also folgt, ist wie immer meine objektive Meinung. Natürlich kannst Du dabei zu einem völlig anderen Schluss kommen, gerade wenn es um so etwas Subjektives wie ein Bokeh geht. Und wie ich schon beim Primoplan 58mm F1.9 II formuliert hatte, natürlich erst recht bei einer Objektivrechnung, die schon viele Jahre auf dem Buckel hat – mit allen Stärken und Schwächen.
Haptik und Verarbeitung
Beim ersten Auspacken des Optik Meyer Görlitz Primoplan 75/1.9 II ist die robuste Konstruktion unverkennbar. Das Gehäuse besteht aus hochwertigem Metall und fühlt sich in der Hand sehr wertig an. Das Gewicht ist mit etwa 350g bemerkenswert und sorgt für eine angenehme Balance an meiner Leica M10. Du kannst Dir sicher vorstellen, dass solch ein Wertigkeit noch beeindruckender ist, wenn Du direkt davor die Werkstatt besuchst hast. Ich habe dort gesehen, wie die Optiken entstehen und mit welcher Liebe und Sorgfalt hier gearbeitet wird. Optik Meyer Görlitz ist vermutlich die einzige (fotografische) Manufaktur, die vorweisen kann, dass alle Bestandteile wirklich aus Deutschland kommen und alle Produktionsschritte in Deutschland durchgeführt werden. Mit diesem Wissen und diesen Eindrücken im Hinterkopf liegt das Optik Meyer Görlitz Primoplan 75mm F1.9 II noch besser in der Hand.
Der Fokusring ist gut gedämpft und bietet eine glatte, aber genaue Einstellbarkeit. Der Blendenring ist ebenso solide gebaut und ermöglicht eine feinfühlige Kontrolle über die Blende von F1.9 bis F16. Dabei ist der Blendenring nicht klickbar und somit auch für Filmer:innen attraktiv. Als Fotograf muss ich daher immer etwas aufpassen, den Blendenring nicht aus Versehen zu verstellen. Die 15 Blendenlamellen sollen für ganz besondere Unschärfeverläufe sorgen.
Was ist nun neu am Primoplan 75/1.9 II ?
Wie auch schon beim 58er Primoplan halte ich die so genannte „Version II“ des 75er Primoplan in den Händen. Also die Neurechnung derjenigen Ur-Version, die auf Konsturktionspläne bis in die frühen 1930er Jahre zurück geht und schon in den 1950er Jahren aus den Verkaufskatalogen wieder verschwand. Zur Neurechnung schreibt der Hersteller Meyer Optik Görlitz auf seiner Website:
Entwickelt wurde das Primoplan 75 F1.9 vom genialen Konstrukteur Paul Schäfter. Meyer-Optik-Görlitz meldete am 17.6.1936 über die Konstruktion einen Gebrauchsmusterschutz an. Auch die Neufassungen der Objektive stammen aus Görlitz, Meyer-Optik-Görlitz entwickelte sie mit Unterstützung des verantwortlichen Ingenieur Dr. Wolf-Dieter Prenzel. Er hat das Primoplan 75 F1.9 II neu gerechnet und nach intensiver Entwicklungszeit schonend an die Anforderungen der digitalen Fotografie angepasst, seine charakteristischen Eigenschaften blieben dabei erhalten.
Es handelt sich bei den IIer Versionen also beileibe nicht um alten Wein in neuen Schläuchen, sondern um die Umsetzung der legendären Rechnungen in zeitgemäße Vergütungen und modernen Gehäusen. Womit ich einerseits wieder bei der hochgelobten Haptik wäre. Andererseits aber auch bei der Bildqualität.
Die Bildqualität des Primoplan 75/1.9 II
Auf dem Elbjazzfestival fotografiere ich mit dem Primoplan 75/1.9 II an meiner Leica M10. Ich springe zwischen den Bühnen hin und her und interessiere mich aber weniger für die Musiker selbst, als für das Drumherum. Es passiert so viel und es sind Emotionen ohne Ende am Start. Festivals sind einfach ideal zum Fotografieren.
Da zwischen Objektiv und Kamera keine Messsucherkoppelung existiert, nutze ich den Aufstecksucher von Leica, den Visoflex Typ 020. So richtig kann ich mich an den Visoflex nach wie vor nicht gewöhnen, was die Haptik und das Gefühl betrifft. Denn der optische Aufstecksucher nimmt der M ihre Einfachheit und ihre Schönheit. Auf der anderen Seite ist der optische Sucher aber einfach Gold wert, denn mein Ausschuss sinkt damit rapide. So kann ich nämlich viel besser fokussieren und insbesondere bei offenen Blendenwerten ist das wirklich von Vorteil. Ich bin Brillenträger uns auch deswegen nutze ich den Visoflex doch öfter als er mir ästhetisch eigentlich lieb ist. Und auch für den Fall, dass ich mich wiederhole: Mit den Objektiven von Meyer Optik Görlitz musst Du als Leica-Fotograf:in den Visoflex verwenden oder zumindest den Live View auf Deinem Display (das Objektiv wird vom Hersteller in unzähligen weiteren Anschlussvarianten angeboten).
Erwartungsgemäß zeigt das Primoplan 75/1.9 II in seiner Paradedisziplin was es kann. Nämlich das charakteristische „Seifenblasen-Bokeh“, das auch aufgrund seiner längeren Brennweite noch etwas deutlicher ausgeprägt ist als beim kleinen Bruder, dem 58er Primoplan. Im Bokeh des Primoplan 75/1.9 II sehe ich Lichtpunkte in kreisförmigen, fast sphärischen Formen, die den Hintergrund in einer ungewöhnlich malerischen und traumhaften Art und Weise gestalten. Diese Bokeh-Eigenschaften verleihen meinen Bildern ein unverwechselbares und künstlerisches Flair.
Sogar noch auffälliger, vor allem auf meinen Elbjazz Bildern, ist für mich der Verlauf von der Schärfe zur Unschärfe. Obwohl ich nicht mit der Offeblende fotografiere – bei F1.9 sind mir die Ergebnisse zu weich, dazu aber unten mehr – sehe ich auf meinen Aufnahmen wunderbare Übergänge von scharfen Ebenen bis zu welligen, leicht swirligen und wunderbar cremig unscharfen Bereichen. Es sind diese Übergänge, die dem Gesamteindruck des „Romantischen“ und des „Dreamy Look“ ihren Ruf erbringen. Ich gebe zu, subjektiver kann ein Urteil nicht ausfallen. Es ist nun mal das, was wir Fotograf:innen Charakter nennen und was nicht gleichzusetzen ist mit Bildfehlern. Diese sind nämlich nicht erkennbar, kaum chromatische Abberrationen, eine satte und lebendige Farbwiedergabe und leicht abgeblendet mit ausreichender Schärfe in den Bildmitten.
Die volle Stärke spielt das Primoplan 75/1.9 II bei Portraits aus, die ich hier leider nicht zeigen darf. Ihr könnt aus dem Elbjazz Bildern aber sicherlich nachempfinden, welche Eignung die Linse hierfür besitzt. Ich würde sogar soweit gehen und die Portraitfotografie als die Königsdisziplin ansehen. Für die Festival- und Konzertfotografie ist sie womöglich nicht die erste Wahl, das muss ich mir nach dem Elbjazz-Wochenende ehrlicherweise eingestehen. Auch wenn ich finde, dass durchaus ein paar charaktervolle Shots entstanden sind.
Alle Bilder habe ich mit dem Meyer Optik Görlitz Primoplan 75/1.9 II an der Leica M10 mit dem Visoflex gemacht. Da bei Leica M keine brauchbaren EXIF Daten vorhanden sind, greife ich auf meine Erinnerung zurück, alle Bilder müssten etwa bei Blende 2.8 bis 4 aufgenommen worden sein.
Das Primoplan 75/1.9 II und die Portraitfotografie
Mit den Portraits ist das ja immer so eine Sache. Da habe ich ein Objektiv zum Ausleihen zur Verfügung, aber nicht immer gibt es auch das Gesicht dazu, das ich fotografieren kann UND das ich auch auf meinem Blog zeigen darf. Und das ist auch gut so, aber leider irgendwie auch unpraktisch, wenn ich Dir dann einfach schreiben darf, dass „sich das Primoplan 75 ganz hervorragend für Portraits eignet. Das musst Du mir jetzt einfach glauben, weil ich die Bilder nicht zeigen kann“. Willkommen in der Realität der Blogger:innen!
Also nehme ich meine Perückenbüste, die ich mir als Student auf dem Flohmarkt gekauft habe, und inszeniere eine Portraitsituation. Als Deko baue ich ein paar fotografische Accessoires drumrum und stelle auf das linke Auge scharf. Natürlich halte ich die ISO niedrig und fotografiere mit dem Selbstauslöser (von links F1.9, F2.8, F4 bis F8):
Bei F1.9 und F2.8 sehe ich die schönen runden Bokeheffekte, vor allem links unten an der Kamera, aber auch generell bei den Lichtquellen. Die Verläufe zwischen Schärfe und Unschärfe finde ich „zum Niederknien“. Es löst in mir diesen Wow-Effekt aus. Ab Blende F4 nehmen die Effekte ab. Zu weit Abblenden sollte man also nicht. Aber, solltest Du überhaupt abblenden? Für mein Dafürhalten: Ja!
Das zeigt sich besonders im Direktvergleich beider Bilder. Klar, ist das Bokeh bei Offenblende (links) noch cremiger, noch verträumter. Allerdings ist es das bei Blende F2.8 (rechts) noch immer deutlich vorhanden, gleichzeitig weist das Gesicht aber erkennbar mehr Zeichnung auf.
Spräche das schon fürs generelle Abblenden? Anhand der im Hintergrund befindlichen Filme wollte ich das noch einmal etwas genauer wissen. Ich habe diese einmal umgestellt und darauf fokussiert. Um es vorwegzunehmen, meine Aufnahmen bestätigen die Sweetspots bei F2.8 und F4 – je nach Motiv bzw. auch nach Abstand zum Hauptmotiv (von links F1.9, F2.8, F4 bis F8):
Das Bild bei Offenblende ganz links ist schon sehr weich. Im direkten Vergleich möchte man es direkt skippen und es als zu verwaschen abstempeln. Wenig überraschend werden die Beschriftungen der Filmrollen immer schärfer (fokussiert auf den „Black & White Potsdam 100“), je weiter ich abblende. Entscheidend für mich ist aber der Sprung von der weichen Offenblende F1.9 auf F2.8. Dieser ist gewaltig, danach tut sich nicht mehr so wahnsinnig viel, denn weder ist F4 deutlich stärker als F2.8, noch sehe ich einen krassen Qualitätsanstieg bei F8. Was aus meiner Sicht ebenfalls für den Sweetspot F2.8 (alternativ F4) spricht:
Vor allem in der Vergrößerung siehst Du nun, warum ich das Meyer Optik Görlitz Primoplan 75/1.9 II nur abgeblendet genutzt habe. Mit der Blende F2.8 behältst Du den Großteil der tollen Bokeheffekte mit den cremigen Unschärfeverläufen (die im Übrigen sogar noch bei Blende 8 zu sehen sind) und die Beschriftungen sind ausreichend deutlich gezeichnet. Nein, das Objektiv ist kein Schärfemeister, aber das muss es auch gar nicht sein, schon zweimal nicht an den Rändern. Dieses Objektiv will für die besonderen Anlässe eingesetzt werden, dort wo es auf Nostalgie und Romantik ankommt. Wo künstlerische Aspekte gefragt sind und wo die Portraits etwas anders aussehen wollen. Und die hier erreichte Schärfe in den Bildmitten ist dafür völlig ausreichend.
Fazit
Ziemlich lecker ist dieses Primoplan 75/1.9 II , das muss ich gestehen. Auch wenn es nicht das ideale Festivalobjektiv ist – Grüße ans Elbjazz! – so ist es doch für mich schon das zweite ganz eigene Liebhaberglas aus dem Hause Meyer Optik Görlitz. Es ist für diejenigen von Euch, die ein einzigartiges, fast malerisches Bild suchen. Mit seiner Fähigkeit, ein wunderschönes, seifenblasenartiges Bokeh zu erzeugen und seiner soliden Konstruktion ist das Primoplan 75/1.9 II eine außergewöhnliche Wahl für Porträtfotograf:innen und Liebhaber:innen von Vintage-Objektiven. Und hey, das möchte ich noch einmal erwähnen: Mehr „Made in Germany“ gibt es in der Fotowelt derzeit nicht!
Mein Dank geht an das Meyer Optik Görlitz Team. Dafür, dass ich auch das Primoplan 75/1.9 II ausführlich testen dufte. Und insbesondere an Thomas Burisch, für die kleine Manufakturführung und die vielen spannenden Geschichten rund um Meyer Optik Görlitz.
Echt stark, dein Beitrag über das Primoplan 75mm F1.9 II! Man merkt, du hast dir richtig Mühe gegeben und weißt, wovon du redest. Deine Schilderungen zur Bildqualität und dem Bokeh-Effekt haben mir besonders gut gefallen. Deine Fotos dazu sind der Hammer und vermitteln super, was du meinst. Wäre schöner, wenn Du noch mehr Bilder hättest, etwas wenig!
Gut, wie du das Handling und die Verarbeitung des Objektivs rüberbringst. Fast so, als würde man es selbst in der Hand halten. Wirklich hilfreich für alle, die darüber nachdenken, sich das Teil zuzulegen.
Alles in allem: top Beitrag! Du hast das Zeug echt verständlich rübergebracht. Bin gespannt, was du als Nächstes schreibst.
Danke Dir Stephan! Welch jugendliche Ausdrucksweise … nix für ungut!! 😉
Dieser Artikel wurde im Oly Forum verlinkt und so wurde ich auf ihren Blog aufmerksam. Ich bin angetan von ihren Artikeln, Schreibweise und den Bildern. Da habe ich jetzt einiges zum Lesen an den Weihnachtstagen. Freundliche Grüße aus dem Saarland, Helmut
Hetzlichen Dank! Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Lektüre und frohe Weihnachten 🙂