Andreas Herzau – „Helvetica“ (Notizen zur Podcast Folge #6 der Fotobuch Plauder Ecke)

In der sechsten Ausgabe der Fotobuch Plauder Ecke sprechen wir über Fotobücher zum Thema „Europa“. Ich bin gar nicht weit gereist, nämlich „nur“ in die Schweiz. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich ein Bildband des kürzlich verstorbenen Andreas Herzau auswählen wollte. Die Meldung, dass Andreas Anfang Februar ums Leben gekommen ist, kam völlig überraschend. Zurück bleibt ein exzellentes Lebenswerk, aber auch die Erinnerung an einen sehr gefühlvollen und sehr inspirierenden Fotografen. Schaut Euch unbedingt den hervorragenden YouTube Vortrag von Andreas an, den ich unten im Abschlussabschnitt „zum Weiterlesen“ verlinkt habe.

Thomas hat sich den Bildband „Borderline“ von Valerio Vincenzo herausgesucht und vorgestellt, eine wirklich exzellente Wahl (hier kommt ihr direkt zu seinem Blogbeitrag). Schließlich zeigt uns das Projekt, welches Privileg wir heutzutage haben, die in Europa leben. Nämlich viele Grenzübergänge, die eigentlich gar keine mehr sind. Schaut doch mal rein bei YouTube.

Andreas Herzau und der „visuelle Duft“

Andreas Herzau wurde 1962 geboren und ist in Tübingen aufgewachsen. Er selbst nannte sich ein „Kind des Kalten Krieges“ und begann früh, sich für fremde Länder und Kulturen zu interessieren. Dabei ging es ihm weniger um die großen (fotografischen) Highlihtmetropolen wie New York, Paris oder London. Nein, er stellte als junger Mann ganz explizit die Frage, „warum reist denn keiner nach Moskau?

Andreas Herzau hat über die Jahre hinweg verschiedenste Länder- und Stadtportraits veröffentlicht, sehr bekannt ist sicherlich sein Buch „Deutsch Land“ von 2006. Weit über die Fotografie hinaus wurde er populär durch sein Kanzler Portrait von Angela Merkel („AM“, 2018).

Ich hatte ihn einmal bei einer Vorstellung seiner Bilder erleben dürfen. 2022 stellte sich Andreas Herzau in einem „Artist Dialog“ den Fragen der Anwesenden und ich kann mich gut daran erinnern, wie er sich immer auf die Suche nach dem Ungewöhnlichen begeben hatte und eben dorthin wollte, wo Andere nicht so oft hinschauen. Sein immer währendes fotografisches Ziel: Den „Duft“ einer Stadt oder eine Kultur einzufangen. Diese Veranstaltung fand im Rahmen der Hamburger „Triennale der Photographie“ statt, Andreas Herzau zeigt Bilder aus Afrika als Teil der Gruppenausstellung „Zerstörung des Labors zu Gunsten des Experiments“. Und ja, ich kann mich gut erinnern, dass auch diese Bilder einen ganz eigenen Geruch hatten.

Andreas Herzau und die Schweiz

2017 erschien mit „Helvetica“ seine Arbeit über die Schweiz bei Nimbus Books. 70 Bilder finden sich großformatig auf 96 Seiten, das Format ist 34*24cm. Alle Aufnahmen – zumeist im Hochformat – sind vollflächig abgebildet, die Arbeit besticht durch exzellentes Papier und einer hervorragenden Haptik. Andreas Herzau war gelernter Schriftsetzer und so wundert es nicht, dass er nur beste Materialien verwendet. Im Impressum finden wir Angaben zum genutzten Papier (Arctic Volumen White 170g), aber auch zur Schrift. Dreimal dürft Ihr raten? Natürlich, Helvetica!

Andreas Herzau - Helvetica
Andreas Herzau – Helvetica: 70 Aufnahmen auf 96 Seiten.

Warum eine Arbeit über die Schweiz? Andreas‘ Lebensgefährtin ist Soziologin und hatte vorübergehend einen Lehrauftrag an der Universität Bern angenommen. „Ich bin ihr zeitweilig in die Schweiz gefolgt […], mit ihr habe ich das Wohlsein in der Schweiz und die Verunsicherung als Deutsche und Deutscher in der Schweiz erlebt, diskutiert und analysiert“ (Zitat von Andreas Herzau aus dem Begleittext zu „Helvetica“). Seine Arbeit soll also den visuellen Duft der Schweiz abbilden, ganz bewusst als Gegensatz zu dem so typischen Schweiz Bild, was so verbreitet ist und das wir alle in uns tragen.

Andreas Herzau - Helvetica
Schaut Euch diese Doppelseite an. Haben wir nicht alle sofort die Schweiz vor Augen? Andreas Herzau – Helvetica

Ich möchte die Buchvorstellung mit einer Doppelseite beginnen, die gar kein echtes Bild enthält. Ich schreibe bewusst „echtes“ Bild, weil wir fünf Worte auf einer weißen Doppelseite sehen. In meinem Kopf macht sich aber sofort ein Bild auf, nämlich eine typische Landschaftsaufnahme aus der Schweiz. Natürlich mit schneebedeckten Gipfeln, eine blauem Himmel mit schönen Schäfchenwolken, einem See im Vordergrund und irgendwo weht bestimmt eine Schweizer Nationalflagge im Wind.

Andreas Herzau - Helvetica
Ein ganz anderes Bild von der Schweiz. Andreas Herzau – Helvetica

Aber nein, diese Schweiz wird durch die vielen Tourist:innen dokumentiert. Andreas Herzau hält die Kamera in die andere Richtung und fotografiert die echte Schweiz. Ihr erinnert Euch an den visuellen Duft? Dieser Bildband riecht nach diesem Land. Ich selbst bin nahe der Schweizer Grenze aufgewachsen und durchaus affin – dank dem Schweizer Kinderfernsehen und vieler Besuche in diesem Land. Wenn ich darin blättere, dann erkenne ich diese Kultur in ihrer Faszination und in ihren Eigenheiten. Als Reisender, aber auch als studierter Soziologe – ein Semester lang hatte ich mich in meinem Studium mit diesem Land und seinen Menschen auseinander gesetzt. Warum die Schweiz so funktioniert wie sie nun mal funktioniert. Mit all ihren Sprachen und der immer währenden Neutralität. Auch deshalb habe ich mich für „Helvetica“ von Andreas Herzau entschieden.

Andreas Herzau - Helvetica
Links die „Miss Schweiz“, rechts ein Stückchen Schweiz, das sein Träger richtig lieb haben zu scheint. Andreas Herzau – Helvetica

Dieses Land tickt einfach anders; auch und gerade im direkten Vergleich zum großen Nachbar Deutschland. Das wird durch ergänzende Gedichte von Eugen und Nora Gomringer unterstrichen. Die Texte sind in Schweizerdeutsch gehalten, dank meiner oben erwähnten Kinderfernsehenbildung kann ich das ganz gut lesen und verstehen. Das Gedicht „Schwiizer“ erzählt davon, dass man nur schaut und beobachtet, aber eben von Weitem, ohne sich einzumischen. Schwiizer Sii, Schwiizer bliible. Nu Luege. (Schweizer sein, Schweizer bleiben, nur schauen). Mich erinnert das etwas an den Song „Hey Du“ von Tocotronic aus dem Jahr 2017. „Hey du, was starrst du mich an, breitbeinig auf der Bank, bin ich etwas, das du nicht kennst? […]. Ist mein Stil zu ungewohnt für den Kleinstadthorizont?“

Andreas Herzau - Helvetica
Das Gedicht „Schwiizer“. Seht Ihr auf der linken Seite unten die erhobene Hand, die gelebte Direktdemokratie? (Andreas Herzau – Helvetica)

Die Arbeit von Andreas Herzau macht Bilder auf, die eben nicht Berge, Seen und Schokolade auf Hochglanzpapier zeigen, sondern wenn überhaupt, dann nur als Abklatsch auf einem kitschigen Ölgemälde. Die Schweiz kann vielmehr sehr fremd sein und kann „niemals so etwas wie das 17. Bundesland“ sein (Zitat Herzau).

Andreas Herzau - Helvetica
Wo ist hier nun die Schweiz zu sehen? Auf einer exotisch anmutenden Staffelei? Andreas Herzau – Helvetica

Dieser Bildband reiht sich nicht nur ein in die vielen hochkarätigen Arbeiten von Andreas Herzau. „Helvetica“ kann auch als Antwort auf die Arbeit „Die Deutschen“ des Schweizers René Burri von 1962 gesehen werden; Andreas Herzau selbst weist auf seiner Website auf diese Verbindung hin.

Ich hatte „Die Deutschen“ erst vor ein paar Tagen in den Händen, als ich mich im Photo+Medienforum Kiel mit dem Entwickeln von Schwarz-Weiss Fotos in der Dunkelkammer beschäftigt hatte. In der dortigen Bibliothek sprang mir René Burris Arbeit entgegen und ich war wirklich geflasht, welches deprimierende Bild er von den Deutschen in den 1950er und 1960er Jahren gezeichnet hatte. Eine Kultur, tief verletzt vom Nationalsozialismus, aber keinesfalls davon geheilt und schon gar nicht in irgendeiner Art der kritischen Aufarbeitung. Schaut Euch dieses Buch unbedingt einmal an!

Und: Beschäftigt Euch mit Andreas Herzau. Seine Arbeiten sind inhaltlich aber auch haptisch wirklich eine Besonderheit. „Helvetica“ steht stellvertretend für seine vielen exzellenten Länder-, Städte- und Menschenportraits. Sein Mantra des Einfangens eines „visuellen Duftes“ ist etwas, was wir uns merken und mitnehmen sollten. Für unsere eigene Fotografie.

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2 Gedanken zu „Andreas Herzau – „Helvetica“ (Notizen zur Podcast Folge #6 der Fotobuch Plauder Ecke)“

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