Eigentlich verlaufen die Alpen irgendwie von links nach rechts, im südlichen Bereich von Mitteleuropa. So oder so ähnlich haben wir es alle im Kopf. Im Westen jedoch machen die Alpen einen Knick „nach ganz unten“, bis fast ans Mittelmeer. Diese im französisch-italienischen Grenzgebiet gelegenen Berge nennt man die Seealpen. Für ein paar Tage war ich im Nationalpark „Alpi Marittime“, einem der unbekanntesten Gebiete der ganzen Alpenregion.
Wie ich dazu komme, dorthin zu fahren? Schuld daran ist der Kamerahersteller Leica, genauer gesagt die Leica Akademie. Es handelt sich dabei nach eigenen Angaben, um die „älteste und renommierteste aller modernen Fotoschulen“ (Zitat). Schon in den 1930er Jahren gegründet, bietet die Leica Akademie bis heute ein spannendes Programm an.
Ein Hamburger Fotograf hatte mich darauf aufmerksam gemacht und mich ermuntert, bei der Exkursion in die Seealpen teilzunehmen. Neben der Fotografie an sich stehe vor allem der direkte Kontakt zur Natur im Vordergrund. Die Aussicht eine Woche in den Bergen vor mir zu haben, zu Wandern und im Freien zu schlafen, die Fotografie in den Mittelpunkt zu stellen und das noch mit einer Leica Kamera und dazugehörigen Objektiven – all das hörte sich extrem verlockend an.
Dazwischen kommen konnte eigentlich nur noch Corona. Bis Ende September habe ich täglich die einschlägigen Infoseiten geprüft und daraufhin die Anreisepläne mehrmals neugeordnet, bis ich mich schließlich Last Minute doch noch für den Nachtzug nach Zürich und die Weiterreise mit der Bahn über Mailand, Turin nach Cuneo entschieden habe. Schließlich sind wir in der letzten Septemberwoche zu fünft in SantʼAnna di Valdieri im Piemont eingetroffen um mit unserem Guide Stefan eine Woche in den italienischen Seealpen zu verbringen.
Nach einem Abendessen in unserer Herberge und dem Klären letzter organisatorischen Fragen, sind wir am nächsten Morgen losgezogen. Mit dabei Nahrung für eine Woche, Schlafsack, ISO Matte, Regenkleidung und natürlich unsere Fotoausrüstung (über meine ausgeliehene Leica-Ausrüstung habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben). Wir haben unsere Rucksäcke nicht gewogen, aber es waren wohl mindestens 15 Kilo, die wir in diesen Tage auf jeden einzelnen Rücken schnürten.
Die Charakteristik der Seealpen
Nun, die Seealpen habe ich völlig anders wahrgenommen als die Teile der Alpen, die ich bisher gesehen habe. Ich dachte bislang, ich würde das Gebirge kennen. Natürlich war ich in den Bergen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ich war in den Dolomiten ebenso wie in den französischen Alpen und ich kenne auch die Berge rund um den slowenischen Triglav, den sogenannten Julischen Alpen. Die Seealpen waren mir bis dato völlig fremd. Und sie sind – nicht zuletzt bedingt durch die südliche Lage – viel wilder und viel karger. Über der Baumgrenze wirkt die Landschaft fast wie eine Steinwüste; etwas erinnerte mich an die hohen Lagen der Insel Madeira, wo ich vor einem knappen Jahr ein paar Tage gewesen war.
Nur weil die Ausläufer der Seealpen bis an die Mittelmeerküste reichen, heißt es aber nicht, dass die Berge keine stolzen Höhen aufweisen. Die höchste Erhebung ist der 3.297 Meter hohe Monte Argentera, und genau in dessen Nähe sind wir gewandert.
Vom Val Grosso zur Refugio Questa
Unsere Route führt uns von der etwa auf 1,000 Meter Höhe gelegenen Ortschaft SantʼAnna di Valdieri in das Grosso Tal, entlang an mehreren Seen. Tag für Tag steigen wir höher auf, bis wir auf 2,900 Meter die Passhöhe des Colle Est della Paur überqueren. Es sind jahrhundertalte Wege, die wir laufen. Ausgebaut erst für Könige, später für das Militär.
Von der Passhöhe aus gehen wir gar nicht weit bergab. Auf etwa 2,600 Meter Höhe bauen wir uns nächstes Camp auf. Hier ist es schon zur Routine geworden, wie wir uns um Wasser aus den Seen kümmern, wie wir gemeinsam Essen, noch etwas fotografieren und uns dann nach Einbruch der Dunkelheit in unsere Schlafsäcke verkriechen. Dank bester Ausrüstung sind die frostigen und sternenklaren Nächte nicht wirklich kalt und wir schlafen in aller Regel bis es wieder hell wird.
Regen, Gewitter & Schnee
In dieser Nacht unter dem Colle Est della Paur ist es allerdings anders. Bisher waren die Wetterverhältnisse einwandfrei und der Wettbericht sagt auch für die kommenden Tage nur leichten Regen voraus. Was aber in der Nacht einsetzt, ist ein Sturm bester Güteklasse. Unterstützt von einem Regen, der gekommen ist um zu bleiben.
Es ist schnell klar, dass dieser Regen so richtig fies sein wird. Dass er sich nicht schert um die beste Regenausrüstung und so gar keinen Respekt zeigen kann vor wasserdichten Rucksackschutzhüllen. Vielmehr will dieser Regen an Nähten und Gurten, an Taschen und Reißverschlüssen direkt auf unsere Haut. Und noch viel fieser: dieser Regen will in unsere Rucksäcke hinein. Dort wo sich die Ersatzkleidung und der Schlafsack auf ein trockenes Dasein eingestellt haben.
Die Erkenntnis, dass der Regen die Oberhand gewinnt, wird uns schnell klar. Und so kommt es gerade gelegen, dass Stefan schon weiß, dass es am Lago delle Portette eine Hütte gibt mit einem Winterraum, der für Notfälle offen steht und dass wir die kommende Nacht hier verbringen können. Überhaupt ist Stefan ein perfekter Guide, kennt sich aus, weiss immer zu helfen und strahlt andauernd Ruhe und Erfahrung aus.
Die Refugio Emilio Questa – so der volle Name der Hütte – ist ein Glücksfall für uns. Denn aus dem harmlosen Regen wird schließlich das heftigste Unwetter der Region seit 1958. Und zu Regen und Wind gesellt sich ein über unzählige Stunden andauerndes Gewitter. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, jemals ein Gewitter erlebt zu haben, dass so heftig war und vor allem so lange dauerte.
Blitz und Donner in den Seealpen. Darüber könnte jeder von uns nun wahrlich einen eigenen Bericht schreiben. Viel wichtiger ist aber, dass wir alle heil und fit im Winterraum angekommen sind. Hier konnten wir unsere Sachen trocken, Essen kochen und uns mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass wir die Tour wohl früher beenden müssen. Schließlich ist mit solch einem Unwetter nicht zu spaßen. Das ist uns allen klar. Und Sicherheit geht nun einmal vor.
Irgendwann in der Nacht wird aus dem Gewitter doch noch wieder ein normaler Starkregen. Und im weiteren Verlauf der Nacht wird aus dem Starkregen auch noch Schneefall. Als wir am nächsten Morgen aus der Hütte schauen, trauen wir unseren Augen nicht. Weg ist das ganze Grau, weg ist auch das unschöne Naß. Nun verzaubert uns der Anblick der verschneiten Seealpen. Nebelschwaden lichten sich im Tal und kleine Schneestürme ziehen über den Gipfel der Monte Argentera. Ein wahrlich majestätischer Abschluss unserer Wandertour durch die Alpi Marittime – denn schon am selben Abend sind wir zurück in SantʼAnna di Valdieri, sitzen vor einer herrlichen Pasta und sind glücklich über die Eindrücke der letzten Tage.
Die Seealpen bedeuten echte Einsamkeit
In vielen Kilometern und etlichen Höhenmetern sind wir kaum anderen Menschen begegnet. Am ersten Tag waren noch wenige Wanderer unterwegs, am zweiten Tag haben wir nur noch ein paar Fischer getroffen und an allen weiteren Tagen haben wir keine weitere Menschen mehr gesehen. Adler, Steinböcke und Murmeltiere haben uns begleitet. Ansonsten war da nur Stille.
Kaum Mobilfunkempfang und damit kein Internet. Keine Nachrichten und auch keine neuen Infiziertenzahlen. Ganz genau, in dieser vollkommenen Einsamkeit konnten wir Corona komplett vergessen. Wer kann das im Herbst 2020 schon von sich behaupten?
Wir waren ein tolles Team und haben tolle Bilder mit nach Hause gebracht. Ganz besonders danken wir alle unserem Guide. Danke Leica Akademie! Mille Grazie, Stefano!
„Anderswo ist ein schöneres Wort für morgen“
Sylvain Tesson
Links:
- Meine Instagram Story aus den Italienischen Seealpen
- Eine Woche zuvor war schon eine Gruppe mit Stefan in den Seealpen unterwegs. Hier sind die tollen Bilder von Michael zu sehen.
- Leica Akademie Deutschland
- Website von Stefan