Mitten drin im Balkanfußballmärchen

Roter Stern Belgrad vs. Radnicki Nis

Stadion FK Crvena Zvezda, Belgrad, Jelen Super Liga

Roter Stern Belgrad. Ein Hauch von Fußballmythos weht durch das Stadion, als wir unsere 4,50 Euro-Sitzplätze im morbiden Rund des Rote Stern Stadions zu Belgrad einnehmen. Das erfolgreichste Team Osteuropas trägt zwar längst nicht mehr den Glanz vergangener Tage, und dennoch sind die Erfolge bis heute untrennbar mit der Marke „Roter Stern Belgrad” verbunden. Vor allem natürlich der Gewinn des Europapokals der Landesmeister im Jahr 1991. Damals, gegen Olympique Marseille.

Der heutige Gegner Radnicki Nis verfügt zwar ebenfalls über Europapokal Erfahrung (u.a. im UEFA Pokal Halbfinale 1982 gegen den HSV), ist aber gerade eben erst wieder in die erste Liga aufgestiegen. Der Rote Stern läuft seinen Ansprüchen hinterher und der Trainer, der legendäre Robert Prosinecki, hat direkt nach Saisonstart schon das Handtuch geworfen. Ein wegweisendes Spiel für beide Teams, angenehme 30 Grad, ein Flutlichtspiel, eben in diesem legendären Fußballstadion… was wollen wir mehr?

Das Stadion in Belgrad

Natürlich geht es auch heute um die Verpflegung. Die Erwartungen sind immens hoch, sind wir doch schließlich in der Region der Balkanplatten, exzellenter Würste, Schweinen in allen Bestandteilen mit Paprika, Zwiebeln und Knoblauch. Und schließlich Ćevapčići und Ajvar. Wo, wenn nicht hier, könnten wir die perfekte Wurst finden?

Neben Slivovice lernen wir Dunja kennen, erwarten aber in der Jelen Super Liga das heimische Bier im Stadion – nämlich Jelen. Bedeutet also: Möglichst hungrig zum Stadion aufbrechen, um dort die volle Dröhnung jugoslawischer Kulinarik aufzunehmen – in Kombination mit einem aufregenden Fußballspiel. Finden wir hier in Belgrad endlich die Wursterfüllung? Wir werden sehen…

Auf dem Weg zum Stadion sind wir höchst optimistisch. Die Frage dreht sich weniger ums Essen, als um die Frage Haupttribüne oder doch Fankurve? Serbische Fußballanhänger haben einen berüchtigten Ruf, machen angeblich Stimmung ohne Ende, gerne aber auch mal in der dritten Halbzeit.

Angst brauchen wir keine haben, uns erkennt ohnehin niemand als Fremde, schon in den letzten Tagen wurden wir von Allen ausschließlich auf Serbisch angesprochen. Und doch ist die ein oder andere finstere Miene, die mit uns in Richtung Stadion läuft, zu erkennen. So nehmen wir zielsicher den Weg zur Haupttribüne, kaufen unser Billett und stehen nach einer kurzen Sicherheitskontrolle schon im Rund des „Maracanã”. (Bereits in der 1980er Straßenbahn auf dem Weg zum Spiel klärt uns der Kondukteur über Baujahr und Zuschauerrekorde des größten Stadions auf dem Balkan auf: Maracanã nennen es die Einheimischen, in Anlehnung an den großen Bruder in Brasilien.)

Das Stadion weiß uns sofort zu gefallen. Das halbe Rund ist mächtig überdacht, die Laufbahn rahmt schon beinahe majestätisch das satte Grün. Durch die Sicherheitskontrolle betritt man ebenerdig das Stadion und steht schon am oberen Ende des Hauptranges. Zu unserer Linken die Ultrakurve des Roter Stern, auch die Gegengerade füllt sich allmählich. Die Südkurve zu unserer Rechten indes ist geschlossen, einen Gästebereich sucht man erst einmal vergebens. Um es vorweg zu nehmen: Wir wissen zwar nicht warum, aber erst als das Spiel schon zwanzig Minuten läuft, werden die Gästefans in ihren Block gelassen, um dann natürlich mächtig Radau zu machen.

Roter Stern Belgrad

Schon vor dem Anstoß soll es um die Wurst gehen. Mehr als ein paar Sonnenblumenkerne und zwei lange Gesichter kommen dabei jedoch nicht heraus. Es gibt keine Balkan-Wurst, kein Ćevapčići, kein Ajvar, schon gar kein Schwein und sowieso aus Prinzip schon mal gar kein Bier. Die Wahl im Stadioninnern beim Catering besteht ausschließlich zwischen Wasser, diversen Fruchtgetränken und Pepsi. Zum Glück habe ich bereits vor dem Gebäude ein paar Sonnenblumenkerne ordern können, sonst hätten wir nicht mal was zum Kauen. Ein fahler, hungriger Geschmack bleibt zurück. Kulinarisch können sich die meisten Gegenden außerhalb von Mitteleuropa – das haben wir nun schon häufiger festgestellt – sogar vom Norden Deutschlands noch einige (Wurst-) Scheiben abschneiden. Was bleibt, ist ein unzufriedenes Herumrutschen auf den kargen und viel zu kleinen, roten Hartplastiksitzschalen. Hin und wieder huscht ein Typ vorbei, mit einem großen Tank auf dem Rucksack, und bietet auch am Platz was zu Trinken an… nämlich Pepsi Cola.

Langweilig ist es vor Spielbeginn jedoch überhaupt nicht. Während die eine Kurve vollkommen unbesetzt ist, scheint auf der anderen Seite kein Platz mehr frei zu sein. Bis eben waren die Ultras jedoch noch totenstill. Wenige Minuten vor dem Anpfiff beginnen auf einmal – mit einem Schlag – die wohl gewaltigsten Ultragesänge Südosteuropas. Ein überwältigender Chor, bestehend aus tausenden Kehlen, zeigt mehrstimmig, wer hier der Herr im Hause ist. Es fliegen Mega-Böller auf die Laufbahn, Bengalos unterstützen die Szenerie, Pyrotechnik vom Feinsten.

Der Gegner scheint völlig unbeeindruckt von den Fans und schenkt dem Roten Stern zu Beginn des Spiels gleich mal zwei Tore ein – eben genau vor dieser Fankurve. Nach zwanzig Minuten führt Radnicki Nis und die schon erwähnten Gästefans – frisch ins Stadion gekommen – feiern sich und ihre Mannschaft und zünden ebenfalls Böller, Bengalos und Co. Die Führung ist hochverdient, Roter Stern Belgrad spielt so schlecht, wie es die Verpflegung in ihrem Stadion schon angekündigt hatte. Grauenhafte Ballverluste, entsetzliches Zweikampfverhalten, stümperhafte Defensivleistungen und auch die Offensive agiert mehr als planlos. Von Europapokalambitionen sind wir weit, weit entfernt, das Niveau bewegt sich eher auf mäßigem Zweit- oder Drittliganiveau. Weil aber auch Radnicki Nis mit Mängeln ausgestattet ist, hatte der Rote Stern nach zehn Minuten zumindest schon mal ein Tor auf dem Konto, zur Halbzeit steht es also 1:2.

Die Fans von Roter Stern Belgrad

Die zweite Halbzeit wird zum Fabelhaftesten gehören, was wir auf einem Fußballplatz bisher erlebt haben. Nicht wegen des spielerischen Niveaus (und schon gar nicht wegen der Verpflegung!), das wird nur unwesentlich besser. Aber die Leistungsunterschiede werden geringer, die Spannung steigt und mal ist der Rote Stern näher am Ausgleich, mal der Gegner näher am entscheidenden 3:1. Es gibt Latten- und Pfostentreffer, die Nervosität steigt, die Stimmung in diesem Hexenkessel auch. Erst recht, als der Rote Stern kurz vor Schluss tatsächlich den Ausgleich erzielt. Kaum einer mehr sitzt, alle stehen auf den Sitzschalen und feuern ihr Team – unser Team – lautstark an.

Sie wissen, wie es im Fußballmärchen nun weitergehen würde: Bis zur 90. Minute immer hin und her, jedes der beiden Teams hätte den Siegtreffer quasi auf dem Fuß und vor allem die ungeliebte gegnerische Mannschaft würde so Arnautovic-mäßig die Riesenchance vergeben. Dann würde der Offizielle an der Linie eine viel zu lange Nachspielzeit ankündigen und der Schiedsrichter – gefühlt – noch viel, viel länger nachspielen lassen. Und genau bevor die ganze Story wirklich nicht mehr auszuhalten wäre, würde noch tatsächlich DAS Tor fallen.

Nun, wir sind im Märchen: Hier und jetzt macht der schon als Doppeltorschütze gefeierte Ognjen Mudrinksi in der fünften Minute der Nachspielzeit sein drittes Tor. Roter Stern steht Kopf und während auf der Anzeigetafel bei Radnicki die bereits bekannte „2″ stehen bleibt erscheint bei Belgrad die „3″. Es ist unfassbar, alle schreien, alle hüpfen, alle sind völlig aus dem Häuschen. Wir sind mitten drin – im Balkanfußballmärchen. Jetzt fehlen erst einmal die Worte. –

Undenkbar, was hier los sein muss, wenn Roter Stern auf Partisan trifft, das Duell der ewigen serbischen Konkurrenten. Wir haben hier und heute eine unvergleichliche Stimmung erlebt, Emotionen und Ultragesänge, wie wir sie aus keinem anderen Stadion bisher gekannt haben. Klar, dass wir wieder kommen müssen. Und folgerichtig fünf Sterne für Roter Stern Belgrad und seine Anhänger:innen.

Was bleibt, ist die kulinarische Enttäuschung. Keine Sterne, keine Wurst, nichts. Zumindest im oder im Umfeld des Stadions. Einen Tag später haben wir uns von Locals zeigen lassen, wie und wo es die besten Ćevapčići von Belgrad gibt (“Alt-Herzegowina”-Restaurant in der Konstantinopel-Str. 36 / Стара Херцеговина / 36 Цариградска / Београд, Link). Umspült von ein, zwei Dunja haben wir doch noch zum kulinarischen Glück gefunden. Es geht doch nichts über ein gutes Stück Fleisch.

Dieser Text ist eine leicht modifizierte Version aus dem Buch „Auf der Suche nach der perfekten Stadionwurst“ (Infos hier). 

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