Alan Schaller – „Metropolis“ (Notizen zur Podcast Folge #4 der Fotobuch Plauder Ecke)

Unsere vierte Folge der „Fotobuch Plauder Ecke“ ist auch schon die letzte Ausgabe des Jahres 2023. Es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht, Bildbände auszusuchen und sie Euch und meinem Podcast-Partner Thomas vorzustellen. Umgekehrt war es jedesmal eine große Freude, wenn mir Thomas seine Wahl präsentierte. Es hat mir einmal mehr gezeigt, wie gut es ist, sich gegenseitig zu inspirieren.

Auch wenn wir noch kein ganzes Jahr zusammen podcasten, so hat uns beiden die Idee gefallen, am Jahresende einen „Bildband des Jahres“ auszuwählen. Ich musste gar nicht lange überlegen, mir kam sogleich Alan Schaller und sein Buch „Metropolis“ in den Sinn. Schließlich begeistert mich Alan mit seinen Aufnahmen schon seit einiger Zeit und ich habe mich wirklich gefreut als er seinen ersten Bildband ankündigte.

Alan Schaller und die Entdeckung der (Street-) Fotografie

Es muss so vor sieben oder acht Jahren gewesen sein, als sich der damalige Endzwanziger Alan in eine Frau verliebte, die ihr Herz wiederum an die Street Photography verloren hatte. Um sie zu beeindrucken besorgte er sich eine Kamera und studierte Henri Cartier-Bresson, Elliot Erwitt und Co. – so besagt es die Legende.

Schaller ist zu dieser Zeit Musiker und Musikproduzent und deckt alle Genres und Stile ab. Er sieht sich als Generalist und tut sich schwer einen eigenen musikalischen Stil zu finden. Diese thematische Weitläufigkeit macht ihn immer wieder unzufrieden, gleichzeitig prägt ihn diesen wahrgenommen Mangel für seine fotografische Laufbahn – so erzählt er es in Interviews.

Als er in die Fotografie eintaucht entscheidet er sich dazu, sich zu spezialisieren. Er denkt an Schwarz-Weiss Aufnahmen, möglichst weitwinklig. Und das auf den Spuren der Street Fotografen, die er in seinen Studien kennen gelernt hatte.

„Metropolis“ von Alan Schaller

Nun, soweit wir das wissen, hat die besagte Frau zwar einen bleibenden Eindruck hinterlassen und ist quasi „schuld“ daran, dass Alan Schaller eine neue Berufung gefunden hatte. Mit über einer Million Follower auf Instagram und zahlreichen Aufrufen auf seinem noch jungen YouTube Kanal gehört Alan zu den wichtigsten zeitgenössischen „Internet-Fotograf:innen“. Ich spekuliere mal, dass wir die Frau kennen würden, würde es sie für Alan noch geben…

Was wir jedoch wissen, ist: Dieses Jahr ist mit „Metropolis“ der erste Bildband von Alan Schaller erschienen (TeNeues Publishing, 240 Seiten, 28*35 cm, 85 Euro).

Alan Schaller - Metropolis
Ganz typisch, das Titelbild in der U-Bahn: Alan Schaller – „Metropolis“. Der eingerissene Buchrücken unten ist natürlich keine Standardausführung.

„Metropolis“ kommt wuchtig und gewaltig daher. Ich benötige schon beide Hände um das gute Stück zu halten. Schon auf dem Titel schaut mich eine ikonische Schwarzweiss-Aufnahme an, hier ist Schwarz noch echtes Schwarz. Und davon gibt es richtig viel.

Alan Schaller spielt einzigartig mit Licht und Schatten und erzeugt auf diese Weise immer wieder „Negative Space“, also Platz zum interpretieren: „The less you see, the more you imagine. Leaving out detail and information can introduce new ways of seeing a person or a scene.“ – so formuliert es Alan in seinem begleitenden Vorwort. Ein Gegenkonzept zu den Fotograf:innen, die gerne alles „Unnötige“ wegcroppen. Ich muss da beispielsweise an das Mantra „Zeigt nur das Wesentliche“ von Martin U. Waltz und seinen Mitstreitern auf der Slam Bühne des German Street Photography Festivals denken, die immer alles wegschneiden wollen. Ich weiss, was sie meinen, aber oft bin da eher bei Alan Schaller, stehe lieber auf zu viel als zu wenig Negative Space. Und auf einem Titelbild passt das ja sowieso bestens, schließlich kommen so Titel und Autorenbeschriftung angemessen zur Geltung.

Es ist kein Zufall, dass in „Metropolis“ viele Aufnahmen von U-Bahnen enthalten sind. Gerade in seinen ersten Jahren als Fotograf pendelte Alan Schaller per Bahn zu seiner Arbeitsstelle als Musiker. Er bezeichnete die tägliche An- und Abfahrt als seine fotografische Schule und will nun (Street-) Fotograf:innen dazu inspirieren, sich immer wieder denselben Aufgaben zu stellen:

„When you use one constant location as a place to take photographs, I have found that it forces you to think more. You have to come up with different techniques and perspectives to avoid repeating the same shots.“

Alan Schaller, „Metropolis“, S. 5

Ähnlich argumentiert er auch bezogen auf die verwendete Technik. Viele seiner Bilder entstehen mit dem Leica Summilux 24mm F1.4, also einer sehr weitwinklingen Linse mit einer hohen Lichtstärke. Alan Schaller übte solange immer wieder mit diesem Objektiv, so dass er die Abstände zum Motiv zuverlässig an seinem Summilux fokussieren konnte. Und zwar so, dass sogar offenblendig alles scharf wird (schaut Euch dazu einmal die unten verlinkten YouTube Videos an).

Alan Schaller - Metropolis
Eine Doppelseite voller Leben in der Londoner Metro: Alan Schaller – „Metropolis“, Seiten 106/107

Vermutlich ist mein Lieblingsbild aus „Metropolis“ genau so entstanden. Es handelt sich um die Aufnahme auf Seite 107, die eine Frau zeigt, die durch die Scheiben der Londoner Metro fotografiert wurde. Die Schärfe ist grandios, die Unschärfe noch schöner. Die Schwarz-Weiss Töne scheinen in tausenden Abstufungen zu verlaufen, die Ausleuchtung ist einzigartig. Und am Wichtigsten: Der ganz spezielle Ausdruck dieser Frau. Wer sieht da nicht die Nachdenklichkeit? Die Isolation des Individuums, vermutlich (auch) als Reaktion auf die sozialen Medien?

Es ist das verbindende von Metropolis: Einzelne Menschen als Darsteller in einer urbanen Welt, „people dwarfed by the modern world around them“. So wie das Mädchen auf den Seiten 128 und 129, an den Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Kurz bevor das Mädchen eine der Stelen berührt, fängt Alan Schaller diesen Augenblick ein, das Schattenbild des Mädchens versucht zurück zu berühren. Und dies an jenem besonderen Monument.

Alan Schaller - Metropolis
Alan Schaller – „Metropolis“, Doppelseite 128/129

Wie aus Einzelbildern eine Serie wird

„Metropolis“ ist auch ein schönes Anschauungsbeispiel wie aus Einzelbildern eine Serie werden kann. Alan Schaller hatte seine Lieblingsaufnahmen in seiner Wohnung an die Wand gepinnt. Erst ein Freund machte ihn auf den Zusammenhang der Einzelaufnahmen aufmerksam. Nämlich, dass die Bilder miteinander sprechen; der gemeinsame Code ist die soziale Isolation. Und tatsächlich ist dies auch der Zusammenhang, den ich sehe, wenn ich seine technischen so wunderbaren Bilder durchblättere.

Ich bleibe also nicht nur bei den grandiosen Licht- und Schattenspielen sowie den vielen Linienpaaren und Symmetrien hängen. Vielmehr sehe ich eine Reportage der heutigen Realität rund um unser isoliertes Verhalten. Bedingt durch die sozialen Medien, beeinflusst aber sicherlich auch durch die Corona Krise.

Da erscheinen die ganz wenigen Aufnahmen, bei denen Menschen wirklich interagieren, als fast schon schmerzhafte Überraschung. So wie auf Seite 73, auf der sich ein Liebespaar gegenseitig tröstet, vielleicht weil es mit der neuen Realität da draußen nicht so recht klarkommen mag? Das tut schon fast weh. – Und glaubt Ihr wirklich, dass es Zufall ist, dass ausgerechnet auf der allerletzten Seite des Bandes noch einmal ein Paar auftaucht? Nein, am Ende von Metropolis lässt Schaller seine Story dann doch versöhnlich enden.

Alan Schaller - Metropolis
Alan Schaller – „Metropolis“, Doppelseite 56/57: Auch hier sehen wir wieder ein Mädchen, ganz alleine in ihrer Kulisse. Licht fällt ein, als ob es den Anschein hätte, das Auto würde das Mädchen anleuchten. Es ist ein bemerkenswertes Gegenspiel von hell und dunkel, von Mensch gegen Technik. Aber auch von Roller vs. Auto, mit einem Fahrrad Logo auf dem Boden.

Wo viel Licht ist, da ist auch (etwas) Schatten?

Es ist ein grandioses Buch und für mich auf mehreren Ebenen mein Bildband des Jahres. Und doch habe ich – wenngleich auf hohem Niveau – auch etwas zu meckern. Gestalterisch ist der Bildband für mich nicht ganz ausgereift, vielleicht liegt es am glänzenden Papier? Ich hätte mir eher eine Darstellung auf mattem Papier gewünscht, denn zu häufig spiegeln die Aufnahmen. Dazu passt leider, dass die Schrift des Begleittextes schlecht lesbar ist; sie ist zu klein und ist im zurückhaltenden Ton auch nicht gut zu erkennen. Die deutsche Übersetzung liest sich eher als hätte eine KI die Arbeit verrichtet, auch daher verwende ich in diesem Blogartikel lieber die englischen Originalzitate.

Die Maßstäbe sind hoch, wurde doch immer erwähnt, dass die Herausgeber bei der Produktion keine Kosten und Mühen gescheut hätten, für Allan Schaller sei sogar ein eigenes „Schwarz“ entwickelt worden, schaut Euch auch dazu eines der unten verlinkten YouTube Videos an! Vielleicht ist das auch das der Grund, warum ich durchaus kritisch mit diesem Bildband umgehe. Bei einem ambitionierten Preis von 85 Euro muss „Metropolis“ das aber auch aushalten können, oder?

Für mich ist es dennoch ein echtes Meisterwerk, das fotografisch beeindruckend ist und endlich Alan Schallers Fotografie vom Mini-Instagram Format auf ein angemessenes Level hebt, nämlich auf einen großformatigen Bildband. Eine Inspirationsquelle für alle, die auf Schwarzweissfotografie und/oder auf weitwinklige und linienführende Motive stehen.

Außerdem lehrt „Metropolis“ auch, wie sich ein Stil entwicklen kann und wie sich Bilder zueinander finden können. Denn vielleicht ist „Metropolis“ am Ende des Tages auch nur eines: Eine exzellente Reportage unserer Vereinsamung.

Zum Weiterlesen / Links

Den Podcast selbst habe ich oben schon eingebunden, ihr findet die Folge aber auch auf allen gängigen Portalen, also Apple Podcasts, Spotify etc. Am Besten Ihr abonniert einfach die Fotobuch Ecke in Eurer Lieblingsapp, dann verpasst Ihr keine der kommenden Folgen und auch keine der weiterhin erscheinenden Einzelausgaben mit Fotograf:innen und ihren Bildbänden!

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