Charles H. Traub – „Dolce Via Nova“ (Notizen zur Podcast Folge #2 der Fotobuch Plauder Ecke)

Nachdem wir in unserer ersten Folge das Motto „Bekannte Fotograf:innen“ mit Elliot Erwitt und Fred Herzog behandelt hatten, steht in unserer zweiten Ausgabe der Fotobuch Plauder Ecke das Thema „1980er Jahre“ an. Wie Thomas und ich das Motto jeweils für uns interpretieren würden, steht uns frei, darauf hatten wir uns von Anfang an verständigt. Wie schon beim letzten Mal war es für mich eine Überraschung, was Thomas ausgesucht hatte (sein tolles Buch habe ich ganz unten verlinkt!) und umgekehrt hatte ich mich schon riesig darauf gefreut, ein Werk auszusuchen und Thomas und Euch damit zu überraschen!

Dolce Via Nova von Charles H. Traub

Mein Bildband „Dolce Via Nova“ von Charles H. Traub ist so etwas wie mein erster verwirklichter Hörertipp. Frank hatte mir schon häufiger von einem seiner absoluten Lieblingsfotografen vorgeschwärmt, nämlich von Charles H. Traub. Der Amerikaner, 1945 geboren in Louisville, Kentucky, ist bekannt für seine charakteristische ironische Farbfotografie. Außerdem hat er eine bemerkenswerte Karriere sowohl im Bereich der Fotografie als auch in der Bildung hinter sich. So spielte Traub eine Schlüsselrolle bei der Gründung des Museums of Contemporary Photography am Columbia College Chicago und leitete später die New Yorker Light Gallery. Seine Arbeit „Dolce Via“ gehört sicherlich zu seinen bekanntesten Werken und erschien 2014 zum ersten Mal. Ich bespreche hier die Neuauflage, die 2022 unter dem Namen „Dolce Via Nova“ in einer erweiterten Version mit bislang unveröffentlichtem Material aufgelegt wurde.

Die Arbeit nimmt uns mit in das Italien der frühen 1980er Jahre. Auf 144 Seiten ist der Bildband für mich gleichzeitig eine Erinnerung an meine eigene Jugend wie auch eine Hommage an Italien als den Sehnsuchtsort von mehreren Generationen. Ganz objektiv gesprochen ist das Werk eine tiefgreifende Dokumentation eines Landes, das sich im Übergang befindet. Nämlich vom traditionellen Italien zu einem modernen Wirtschaftsstaat, noch weit vor dem Jahrzehnt der Globalisierung, und noch weiter entfernt von der Zeit der Digitalisierung. Also ein echter Ausflug in die Vergangenheit.

Charles H. Traub Dolce Via Nova
Die Neuauflage aus dem Jahr 2022: Charles H. Traub und sein „Dolce Via Nova“

Die Aufnahmen in „Dolce Via Nova“ sind sowohl städtisch als auch ländlich und zeigen Straßenszenen, Landschaften, Portraits und Momentaufnahmen des täglichen Lebens. Ich bewundere dieses besonderes Auge von Traub‘ für Details und für das Einfangen von spontanen, oft humorvollen Momenten. Seine Bilder sind sowohl dokumentarisch als auch subjektiv, wodurch sie für mich eine tiefe emotionale Resonanz und einen starken Sinn für Ort und Zeit vermitteln. Sie sind offen, ehrlich und authentisch. Und sie sind gewissermaßen nackt – dazu gleich mehr.

Ein Blick in den Bildband

Das Titelbild ist schon so etwas wie eine Erinnerung an die eigene Jugend. Den ganzen Sommer im Freibad verbringen und mit ein paar Pfennigen am Kiosk für eine Portion Pommes anstehen und mit vollem Magen gleich wieder ins Wasser springen – so sind meine Erinnerungen, wenn ich das Titelbild von „Dolce Via Nova“ sehe. Dazu diese Imperfektionen, wie die unaufgeräumte Szenerie an sich – oder die Zigarette in der Hand der jungen Frau (oder des Mädchens?). In Kombination mit der Farb- und Schärfeästhetik der analogen Technik der 1980er Jahre bringt dies eine tiefe Authentizität mit sich, die mich zu fesseln weiß.

Wir sehen diese Offenheit und die schon erwähnte Nacktheit. Auch die damit unverbundene unprätentiöse Ehrlichkeit wird schonungslos transportiert. Exzellent beobachtet und mit Finesse gelayert – das ist die Sprache von Traub. Und so finden wir schon auf dem Titel (im Buch selbst in Kombination mit der gegenüberliegenden Seite 42 auch perfekt ergänzt) einen idealtspischen Vertreter der Traubschen Fotografie.

Charles H. Traub Dolce Via Nova
Auf der Doppelseite 42-43 findet sich rechts das Titelbild von „Dolce Via Nova“ wieder.

Vom Titelbild der Neuauflage ist es nicht weit zum Titelbild der Originalauflage, also vom Buch „Dolce Via“ von 2014. Ich könnte mich bezüglich Ästhetik und Bildwirkung wiederholen und das würde sich auch auf das ganze Werk beziehen. Es ist in sich unfassbar konsistent. Auch hier finde ich diese ganz besonderen Erinnerungen aus meine eigene Jugend wieder. Aber auch subjektive Reminiszenzen an alte italienische Filme mit und von Adriano Celetano und damit eben auch an die italienischen Klischeewelten.

Wir sehen doch eben auch das andere Italien, abseits von Mailand und Turin, den glitzernden reichen Metropolen im Norden. Und das können wir auch nachlesen, Traub ergänz seinem Werk nämlich auch die Orte an denen die Bilder aufgenommen wurden. Am Beispiel der Doppelseite 54/55 und dem Titelbild von „Dolce Via“ in Amalfi – auf der gegenüberliegenden Seite in Neapel. Hier wie dort präsentieren sich die Protagonisten stolz mit ihren Körpern. Quasi veredelt auf der rechten Hälfte der Doppelseite direkt im Antlitz vom römischen Gott der Meere. Neptun thront ähnlich nackt, ähnlich stolz wie die von Charles H. Traub posed and stated abgelichtete Familie.

Charles H. Traub Dolce Via Nova
Auf der Doppelseite 54-55 finden sich diese beiden grandiosen Abbildungen (links das Titelbild der Originalausgabe „Dolce Via“). Charles H. Traub – „Dolce Via Nova“

„Everyone was on display on the streets of an Italian city, like Rome or Naples. The mid day break or the evening walk were for putting oneself out there; for escaping the drudgery of daily routine. Everybody wanted to be seen, and are delighted to be acknowledged for their style, their physicality, and indeed their sexuality.“

Charles H. Traub in: Interview Street Soul Photography

Die Verbindung zu Fred Herzog und damit zur ersten Folge der Fotobuch Plauder Ecke finde ich auch, nämlich beim Spiel und beim Umgang mit den Farben. Ganz besonders schön in der Aufnahme auf Seite 39 zu sehen. Ich sehe zwei Kinder beim Eisessen, beide leuchten in kräftigem Herzog-Rot vor einer blauen Kulisse, aus Meer und Himmel. Wie gut, dass dieses Bild kein Gegenüber hat, es strotzt nur so vor Kraft und Vorstellungen, aber auch von Linien und Symmetrien. Ein echtes Lieblingsbild, das sicherlich auch Fred Herzog gefallen hätte.

A propos Farbe: Charles H. Traub war seit 1977 überzeugter Farbfotograf und nutze in dieser Phase als Kamera eine Plaubel Makina 67. Die in „Dolce Via Nova“ gezeigten Bilder sind also Mittelformataufnahmen, er war mit einer für die Street Fotografie relativ großen (wenn auch für Mittelformt-Verhältnisse kleinen) Kamera unterwegs.

Charles H. Traub Dolce Via Nova
Seite 39 in Charles H. Traub / Dolce Via Nova. Zwei Kinder in Venedig.

The Plaubel Makina relative to a Leica was not so expensive, I was one of the first in the United States to have one. I bought it because it was a light rangefinder, it was portable but medium format.

Charles H. Traub in: Interview Street Soul Photography

Eine der bekanntesten Aufnahmen ist sicherlich der Hochzeitsstrauß. Das Timing – und nehmen wir einfach mal an, dass es nicht gestellt ist – ist perfekt. Wie oft zitieren wir den entscheidenden Moment von Cartier-Bresson? Besser geht es wohl kaum. Und das nicht nur, weil der Strauß in diesem Moment in die Aufnahme gehalten wird, sondern weil die Interaktion zur Braut klar sichtbar ist! Sogar ihr Gesicht ist perfekt erhellt.

Charles H. Traub Dolce Via Nova
Auf der linken Seite (99) befindet sich eine der bekanntesten Abbildungen aus Charles H. Traub‘ Werk „Dolce Via Nova“: Der Hochzeitsstrauß

Ob sie dem Strauß skeptisch gegenüber steht? Ist es wirklich der schönste Tag ihres Lebens? Oder ist es eine ziemlich schnell arrangierte Hochzeit? Wir wissen es nicht, aber die Story dazu steht irgendwie im Raum. Kenner erahnen im Hintergrund den Vesuv und die Bucht von Neapel, diese Region, die ja qua ihres Vulkans per se für die Vergänglichkeit steht. Wie etwa auch diese Hochzeit? Ihr seht schon, wie genial ich diese Aufnahme finde.

Auch meine letzte Aufnahme, die ich im Podcast bespreche, ist aus Neapel. Nicht nur, weil ich diese Stadt auch fotografisch liebe, tatsächlich muss das auch Traub so ergangen sind, sind doch viele seiner Bilder aus Neapel. Ich liebe dieses Bild, weil es diese Stadt so widerspiegelt, wie ich sie 2022 kennengelernt habe (ich habe auf diesem Blog über diese Reise ausführlich berichtet).

Charles H. Traub Dolce Via Nova
Der Kioskbesitzer in Charles H. Traub: „Dolce Via Nova“

Die Menschen sind genau so offen und so stolz, wie Traub seinen Kioskbesitzer auf Seite 77 präsentiert. In meinem Gedächtnis krame ich nach ähnlichen Bildern, die ich in Neapel gemacht hatte und ich finde davon gleich mehrere. Eines davon möchte ich Euch hier zeigen:

Leica M10R mit Leica Summilux 21mm F1.4
Diese Aufnahme erinnert mich etwas an den Kioskbesitzer von Traub: „Mein“ Fischhändler, auch in Neapel im Februar 2022.

Ihr seht also, Charles Traub und sein „Dolce Via Nova“ sprechen mich gleich auf mehrfache Weise an. Es ist dieses besondere Stück Italien abseits des großen Glanzes, einmal zurück gespult in die 1980er Jahre. Ein Strauß von Szenerien, die in vielen von uns diese Italien-Sehnsüchte vergangener Zeiten wieder wecken. Schaut Euch dieses Werk an und versinkt darin. Und plant daraufhin eine Reise nach Italien, zum Beispiel nach Neapel.

Während der Podcast und diese Notizen zur Folge erscheinen, bin ich genau hier, nämlich in Neapel! „Dolce Via Nova“ ist für mich damit auch eine Vorbereitung auf diese Reise nach Süditalien.

Zum Weiterlesen / Links

Den Podcast selbst habe ich oben schon eingebunden, ihr findet die Folge aber auch auf allen gängigen Portalen, also Apple Podcasts, Spotify etc. Am Besten Ihr abonniert einfach die Fotobuch Ecke in Eurer Lieblingsapp, dann verpasst Ihr keine der kommenden Folgen und auch keine der weiterhin erscheinenden Einzelausgaben mit Fotograf:innen und ihren Bildbänden!

6 Gedanken zu „Charles H. Traub – „Dolce Via Nova“ (Notizen zur Podcast Folge #2 der Fotobuch Plauder Ecke)“

    • Hallo Jenny, Dein Kommentar freut uns, danke!. Der nächste Aufnahmetermin steht schon fest. Soviel sei verraten: Wir sitzen bald zusammen zum Thema „das perfekte Weihanchtsgeschenk“. Ich schon sehr gespannt, was Thomas mit vorstellt und dafür weiss ich schon, was ich ihm zeigen werde 😉 Liebe Grüße, Florian

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