Enno Kaufhold – „St. Pauli Fotografien 1975–1985“ (Notizen zur Podcast Folge #5 der Fotobuch Plauder Ecke)

Unsere Januar Folge der Fotobuch Plauder Ecke ist eine Premiere. Zum ersten Mal sitzen wir während der Aufnahme am selben Tisch. Sonst sitzt Thomas in Mönchengladbach und ich bin bei mir zuhause. Heute sitzen wir bei der Aufnahme der Folge #5 in meiner Wohnung in Hamburg. Daher liegt es auch auf der Hand, dass das Motto der heutigen Bildbandbesprechung natürlich – na? – genau, Hamburg sein wird. Wie immer lassen wir die Interpretation offen, also wie jeder von uns mit der Mottovorgabe umgehen wird.

Thomas hat sich für das Fotobuch „Hamburg fotografieren“ von Susanne Krieg entschieden. Ihr wisst ja schon, dass wir uns gegenseitig immer mit unserer Entscheidung überraschen. Und so ist es ganz lustig, wie ich Thomas nach seiner Buchvorstellung einfach sage, er solle sich einmal umdrehen und dort genau dieses Buch aus meinem Regal ziehen. Diese Szene, wie aber auch die ganze Folge könnt Ihr Euch nun erstmals auch auf YouTube anschauen, denn wir haben zwei Kameras mitlaufen lassen und daraus für Euch einen Video Podcast gemacht. Aber natürlich findet Ihr die Folge – wie auch die ersten vier „Audiofolgen“ auf Spotify, Deezer, Google Podcasts, Apple Podcasts und eben überall, wo man Podcasts hören kann.

Wie ich mich entschieden habe?

Für mich war die Wahl nicht einfach. Warum? Nun, seit 18 Jahren wohne ich in Hamburg. Ich war damals ein Überzeugungstäter und bin hierher gezogen, weil ich als Jugendlicher mir das schon vorgenommen hatte. Zu groß war die Anziehungskraft der Popkultur, insbesondere der Musik. Entsprechend viele Anknüpfungspunkte fallen mir ein und die Wahl auf ein fotografisches Werk wird bei mir immer auch die Absage an ganz viele andere Bildbände mit einem Hamburg Bezug sein. Leider.

Gerade in meinen ersten Jahren war ich sehr viel auf dem Kiez unterwegs, also die Gegend die wir Hamburger ganz grob mit der Reeperbahn und den anschließenden Seitenstraßen verorten. Wer von Euch nicht ganz im Bilde sein sollte: Wir sprechen über das größte Vergnügungsviertel Europa, das jährlich bis zu 30 Millionen Besucher anzieht. Der Rotlichtbereich ist dabei gar nicht mehr die wichtigste Anlaufstelle der Stadt, vielmehr sind es die vielen Kneipen, Restaurants, Bars und Clubs.

Daneben gibt es auch kulturelle Highlights wie das St. Pauli Theater, immerhin das älteste Theater Deutschlands. Oder eben die großartigen Clubs, wie zum Beispiel der Mojo Club. Ganz zu schweigen von den unzähligen Independent-Angeboten. Gleichzeitig steht die kulturelle Vielfalt des Kiezes auf der Kippe und ist vor allem durch eine immer zunehmende Kommerzialisierung gefährdet, die sich unter anderem in einer steigenden Anzahl von Fast-Food-Läden, Souvenirgeschäften und Kiosken zeigt. Das drohende Ende des Molotows ist nur eines von vielen prominenten Beispielen.

Ich kenne den Kiez seit beinahe 25 Jahren und die Veränderung während dieser Zeit ist auch für mich unübersehbar. Noch immer aber übt das Areal einen ganz besonderen Reiz auf mich aus, vor allem auch fotografisch finde ich die Reeperbahn sehr spannend. Die vielen Lichter, die Architektur, aber natürlich vor allem das Treiben rund um die Uhr. Eigentlich ein Paradies für die Street Fotografie und die Reportage. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sich der Kiez weiterverändert und er nie wieder so sein wird, wie er einmal war.

Enno Kaufhold und der Kiez

Vor etwa 50 Jahren muss der damalige Promotionsstudent Enno Kaufhold ähnliche Gedanken gehabt haben. Gleichzeitig war der damals 30jährige auf der Suche nach einem Ausgleich zum wissenschaftlichen Arbeiten. Also nimmt er eine Mittelformatkamera (später dann eine Konica Kleinbildkamera), versteckt sie unter seinem Parka und spaziert damit möglichst unauffällig über die Reeperbahn. Von etwa 1975 bis 1985 macht er wohl so um die 15.000 Schwarz-Weiß Aufnahmen und er geht dabei wirklich dorthin, wo es weh tut (die Anzahl der Aufnahmen habe ich einfach mal geschätzt aufgrund Kaufholds Angaben zu der engeren Auswahl und wie viele Negative je Film überhaupt in diese engere Auswahl gekommen sind).

Enno Kaufhold - St. Pauli. Fotografien 1975–1985
Enno Kaufhold – St. Pauli. Fotografien 1975–1985

Er zeigt den Kiez, so wie man die Gegend in dieser Zeit antrifft, ehrlich, authentisch, arm, grausam, übertrieben und doch so faszinierend. Enno Kaufhold ist mit seiner Reportage mittendrin und dokumentiert so lebensnah, dass er die Bilder erst viele Jahre später veröffentlichen kann. Nämlich in genau diesem Bildband, den ich Euch heute vorstelle: 2021 erscheint „St. Pauli. Fotografien 1975–1985“ im Junius Verlag, ein 230 Seiten umfassendes Werk (Euro 49,90).

Mit Enno Kaufholds Bildband können wir chronologisch den Kiez erwandern. Das Buch steigt 1975 ein und endet 1985. Mit genauen Seitenangaben kann ich nicht dienen – denn Kaufhold verzichtet auf Seitenzahlen – aber irgendwo im ersten Teil stolpere ich über die Aufnahme des „Goldenen Handschuhs“, jener legendären Kneipe die spätestens seit 2016 (der gleichnamige Roman von Heinz Strunk erscheint) und 2019 (Verfilmung von Fatih Akin) in aller Munde ist. Bekannt durch den Frauenmörder Fritz Honka, zeitlich nur kurz vor dem Beginn des Buches „St. Pauli. Fotografien 1975–1985“ einzuordnen.

Den „Handschuh“ gibt es seit 1953 und erhielt seinen Namen durch den ehemaligen Boxer Herbert Nürnberg, bekannt für seine Siege bei den Boxeuropameisterschaften im Leichtgewicht in den Jahren 1937 und 1939, wo er als „Goldener Handschuh“ gefeiert wurde. Und genau das habe ich im Podcast abgebügelt, als Thomas gerade ansetzen wollte, dass da doch die Boxerei im Spiel sei, ich aber habe ihn auf die Ritze verwiesen… Hiermit sei Besserung gelobt, sorry Thomas!

Enno Kaufhold - St. Pauli. Fotografien 1975–1985
Der Goldene Handschuh gestern (Enno Kaufhold in seinem Bildband) und 2020 (in „Lockdown Hamburg„)

Der Kiez ist aber auch ein Wohngebiet. Denn hier wird wohnt und hier geht man seinem Alltag nach. Und auch diese Normalität findet bei Enno Kaufhold statt. Ganz besonders mag ich die Aufnahme der Kinder auf dem Weg zur Schule, irgendwo am Hans Albers Platz vorbeilaufend. Nicht von ungefähr gibt es auch eine Interaktion zwischen den Schülern und dem Girl, das auf dem Sex Shop abgebildet ist. Eigentlich eine Doppeldeutigkeit, wenn man bedenkt, dass Enno Kaufhold irgendwie als Voyeur unterwegs ist, zumindest will er kein Teilnehmer sein.

Enno Kaufhold - St. Pauli. Fotografien 1975–1985
Die Schulkinder auf dem Kiez. In: Enno Kaufhold – St. Pauli. Fotografien 1975–1985

Nein, Kaufhold ist Beobachter, er betont, wie wichtig ihm es sei, alles nur „von außen“ zu betrachten. Und eben heimlich zu fotografieren und bloß nicht aufzufallen. Ein absolutes Gegenkonzept zu „Mittendrin statt nur dabei“ – dazu aber später mehr.

Enno Kaufhold - St. Pauli. Fotografien 1975–1985
Links: Der Junge mit dem Eis. In: Enno Kaufhold – St. Pauli. Fotografien 1975–1985

Das Buch „St. Pauli. Fotografien 1975–1985“ ist eine ehrliche Dokumentation der Reeperbahn und seiner Nebenstraßen, absolut ungeschönt, authentischer geht es nicht mehr. Auch damals waren schon viele Touristen unterwegs, aber Kaufhold meidet die Zeiten, in denen das echte Kiezleben durch die Besucher verwischt wird. Er hält drauf und bildet das normale Leben ab. So wie eben der Junge mit dem Eis lässig an einem Auto lehnt und irgendwie in Berührung zu sein scheint mit der Frau, die rauchend aus dem Tätowierstudio schaut. Es sind Bilder, die Geschichten erzählen und berühren. Und immer wieder – wie auf der gegenüberliegenden Seite – auch Grenzen überschreiten. In diesem Bildband wird geraucht, gesoffen und gekotzt. Wie es auf dem Kiez nun mal so ist. Womit wir wieder bei der viel beschworenen Authentizität wären, oder?

Kaufhold poralisiert. Und stellt immer wieder die Frage, ob man das fotografieren „darf“. Und was die abgelichteten Personen wohl dazu sagen würden. Vermutlich wären sie nicht amused. Aber ich sehe das anders – ohne diese Grenzüberschreitung hätten wir heute nicht eine solch fantastische Reportage vorliegen. Das Zeitzeugnis 35 Jahre später rechtfertigt die ein oder andere Aufnahme von damals, würde ich sagen. Kunst darf das. Und Zeitgeschichte sowieso, oder?

Enno Kaufhold - St. Pauli. Fotografien 1975–1985
Auf dem Polizeiauto. In: Enno Kaufhold – St. Pauli. Fotografien 1975–1985

Einige wenige Aufnahmen sind auch klar als „stated“ zu erkennen. So wie meine Lieblingsaufnahme, nämlich den Herrn auf dem Polizeiauto. Eine Situation, die einfach für typisch für den Kiez ist. Stellt Euch diese Szene in Bayern vor, unmöglich, oder? In Hamburg schon, aufgenommen vor der Davidwache, der Hamburger Polizeizentrale auf der Reeperbahn.

Enno Kaufhold und die Verbindung zu „Café Lehmitz“ von Anders Petersen

Enno Kaufhold ist mit seiner Kiez Reportage nicht alleine. Einige von Euch werden sicherlich an Anders Petersen und seine Ende der 1960er Jahre fotografierte Reportage „Café Lehmitz“ denken. Und tatsächlich sehe ich Verbindungen zwischen beiden Fotografen, aber auch klare Gegensätze.

Enno Kaufhold - St. Pauli. Fotografien 1975–1985
Kneipenaufnahmen von oberkörperfreien Männern: 1.) „Café Lehmitz“ von Anders Petersen (links), 2.) Enno Kaufhold – „St. Pauli. Fotografien 1975–1985“ von Enno Kaufhold (rechts), übrigens auch fotografiert im Café Lehmitz.

„Cafe Lehmitz“ beschäftigt sich mit der Mikrokultur der gleichnamigen Kneipe. Petersen war Teil der Kneipenkultur und verbrachte viele Abende mit den Gästen, trank und feierte mit ihnen – so kam er an seine Bildergebnisse. Im Gegensatz dazu der Beobachter Kaufhold, der immer nur Voyeur sein wollte, nie zu dran war. Und doch auch seine Ergebnisse erzielte. Ich mag den Gegensatz, weil er zeigt, dass man mit unterschiedlichen Mitteln an sein Ziel kommt. Ob es meine Altona 93-Reportage ist, das Mitlaufen am Christopher Street Day oder das Projekt „Dear India“ – immer habe ich den Anspruch mittendrin zu sein. Ohne mich mit den hier besprochenen Fotografen vergleichen zu wollen, vom Typ her bin ich doch eher Petersen, denn Kaufhold.

Der Vollständigkeit halber möchte ich nur am Rande noch darauf hinweisen: Wer Petersen und Kaufhold sagt, der muss auch Zint sagen. Sein Werk „Wilde Zeiten“ verdient eigentlich (ebenso wie „Café Lehmitz“) eine eigene Folge. Günter Zint ist vor allem für seine dokumentarischen Arbeiten bekannt, die oft soziale und politische Themen erfassen. Seine Karriere umspannt mehrere Jahrzehnte, in denen er bedeutende gesellschaftliche Ereignisse und Alltagsleben, allen voran im Umfeld des Hamburger Kiezes, festgehalten hat. Seine (wie auch Kaufholds und Petersens) Fotografien sind für ihre Authentizität und ihren ungeschminkten Blick auf das Leben bekannt. Die Verbindung der Fotografen liegt nicht nur der gemeinsamen Zeit und dem gemeinsamem Thema zugrunde. 2022 stellten Günter Zint und Enno Kaufhold in Berlin auch gemeinsam aus. Ihr Titel: „St. Pauli 1965 – 1985″.

Kaufhold ist ein zeitgeschichtliches Dokument gelungen

Die Arbeit von Enno Kaufhold ist für mich gewißermaßen wegweisend. Er hat es geschafft im Jahr 2021 Furore zu sorgen mit Aufnahmen, die – je nach Definition – 35 bis 45 Jahre im Giftschrank gelegen haben. Sein Spagat aus Street Fotografie und Dokumentation entwickelt die volle Kraft erst durch genau diesen Timelag. Auch in diesem Werk steckt die Erkenntnis: Was wir fotografieren, könnte uns heute als langweilig vorkommen. Aber schon morgen kann es ein einzigartiges Zeitdokument sein.

Das Werk ist so umfangreich, dass es einen fast erschlägt – wer allerdings genau „hineinfühlt“, sieht schon in den nur zehn Jahren von 1975 bis 1985 deutliche Veränderungen. Da wäre die Mode, aber da sind auch die baulichen Veränderungen auf St. Pauli. Und schließlich sehe ich auch den Wandel auf der kulturellen Ebene, die Veränderung eines ganzen Jahrzehnts. Von der RAF Romantik bis zur Atomkraft-Nein-Danke Bewegung. Dieses Buch ist nicht nur ein Bildband, es ist das Gedächtnis einer ganz eigenen Zeit in einem ganz eigenen Kosmos. Ein wunderbares Buch für Hamburg Liebhaber und Nerds der Zeitgeschichte. Und für uns Fotograf:innen.

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